In „Silenius“ von Johann Peter Uz singt der im Titel genannte Silen in der ersten Strophe; die zweite beginnt so:
Der Muse sei vergönnt, dir, Vater! nachzulallen!
Ich hör ihr Saitenspiel, ich hör es schon erschallen;
Sie wiederholt dein göttlich Lied.
Und nun erwartet man, wenn man denn überhaupt etwas erwartet, am ehesten die Vervollständigung der Strophe durch ein weiteres Alexandriner-Reimpaar und einen sechsten, vierhebigen Vers, der mit dem vierhebigen dritten Vers reimt, sprich: eine Schweifreim-Strophe, gereimt aabccb. Aber es kommt ganz anders:
Der Muse sei vergönnt, dir, Vater! nachzulallen!
Ich hör ihr Saitenspiel, ich hör es schon erschallen;
Sie wiederholt dein göttlich Lied.
Du sangst, wie ungestüm das finstre Chaos brüllte,
Bis Erd‘ und blaue Flut und Luft und Feuer schied,
Und sich die alte Zwietracht stillte.
Es folgen also tatsächlich zwei Alexandriner und ein Vierheber, aber die Reimform ist aabcbc! Das gibt, zusammen mit dem tiefen Sinneinschnitt nach dem dritten Vers, einen ganz eigenartigen Höreindruck, so als würden Versgestaltung und Reimgestaltung einander widersprechen, oder doch, zumindest: Nichts voneinander wissen wollen.
Ein anderes Beispiel für diese Form, wieder von Uz – eine Strophe aus seiner „Fröhlichen Dichtkunst“. Die ersten drei Verse:
Einst lag ich sorgenvoll im Schatten finstrer Buchen,
Wo sich ein träger Bach, den Faunen bloß besuchen,
Durch eimsames Gefilde wand.
Wieder das Alexandriner-Reimpaar, dem der Vierheber folgt, und der tiefe Sinneinschnitt. Und dann? Wieder keine Schweifreimstrophe, sondern das Reimschema aabcbc; aber diesmal mit noch anderen Versen!
Einst lag ich sorgenvoll im Schatten finstrer Buchen,
Wo sich ein träger Bach, den Faunen bloß besuchen,
Durch eimsames Gefilde wand.
Mein Saitenspiel vergaß der Schönen,
Und meine scherzgewohnte Hand
Verirrte sich zu trauervollen Tönen.
Die zweite Strophenhälfte bilden ein weiblich schließender Vierheber, ein zweiter männlich schließender Vierheber – und ein weiblich schließender Fünfheber!
Schaut man nach diesen Beispielen noch einmal auf Kästners gestern vorgestellten Text …
Den Sternturm musst ein Jüngling oft besteigen,
Sein Lehrer wollt ihm da die Venus zeigen,
Und das bei hellem Sonnenschein.
Als beide manchen Weg sich nun umsonst gemacht,
Fand, ohne Lehrer, ganz allein,
Der Jüngling sie bei Nacht.
… wird auch dort dieses Muster sichtbar. Also vielleicht gar kein so „madrigalischer“ Text; aber weil er keine zweite Strophe hat, kann man nur aus ihm selbst heraus nichts anderes erkennen.