Erzählverse: Der Blankvers (99)

Detlev von Liliencron ist im Goetheschen Sinne ein Dichter der sinnlichen und imaginären Eindrücke, ich glaube, er weiß gar nicht, was Theorie und Abstraktion sind. Jedenfalls steht er mit diesen schemenhaften Wesen als Künstler auf gespanntestem Kriegsfuß. Und so hat alles Hand und Fuß, Umriss, Farbe und Fülle bei ihm – und mit blassen Wortphantomen wird nicht genebelt und gequirlt.

So Karl Henckell, und schaut man sich den folgenden Beginn eines Liliencronschen Blankvers- textes an, kann man nicht umhin, zuzustimmen:

 

Una ex hisce morieris

Es flammt der Horizont des heißen Tages.
Der Schmetterlinge Flügelschlag ist hörbar,
So still weht Baum und Blatt im Sonnenschein.
Auf fernem Steig klingt schwach des Gärtners Harke.
„In einer dieser Stunden wirst du sterben“
Steht auf der Sonnenuhr im großen Garten,
Auf deren Weiser sich ein alter Spatz
Den unscheinbaren Kragen emsig putzt,
Und schnell das schiefgebogne Köpfchen kraut.
Dann fliegt er weg, im Kirschenbaum zu landen.
Doch unterwegs schlägt ihn der böse Falk.

„In einer dieser Stunden wirst du sterben.“

 

Weiter geht es mit „Bewegung, Menschen.“ Aber ich denke, bis hierher wird schon klar, um was es Liliencron geht; und dass der Blankvers dafür ein geeigneter Vers ist – das auch.

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