Das Ein-Vers-Gedicht (4)

Kann man in sich abgeschlossene Verse aus Gedichten herauslösen und danach als Ein-Vers-Gedichte betrachten?! Vielleicht. Auf jeden Fall verlieren die Verse dadurch etwas, den inhaltlichen Zusammenhang mit den anderen Versen des eigentlichen Gedichts; und sie gewinnen dafür die Freiheit, nur aus sich selbst heraus wirken zu können. Es kommt da wohl auf den Versuch an?!

Ein Zwischending ist ein Vers aus Rudolf Borchardts „Klage der Daphne“, einem längeren, in Hexametern geschriebenen Text, der sich im Band „Gedichte“ der bei Klett-Cotta erschienenen gesammelten Werke auf den Seiten 180 bis 185 findet. Die „Klage“ beginnt so:

 

Frühe vor Tag in dem Tau, wo sie kalt lag, fand ich die Grille,
Atmet ihr über den Fühler, da hob sie ihn; gab ihr im Hinfliehn
Hauch meiner ängstigen Brust gedankenlos, ohne das Mitleid.

 

Ab hier trägt Daphne während ihrer Flucht vor Apollon die Grille bei sich, und während ihrer lange Klage über ihr Schicksal redet sie immer wieder, leicht abgewandelt, die Grille an:

 

Grille, du rufst und rufst in dem Busen mir immer; was rufst du!

Grille, du rufst und rufst und rufst noch immer? Was rufst du?

Grille, du rufst und rufst noch immer, was rufst du?

Grille, du rufst nicht mehr, wie du riefst; ich wollte, du riefest.

Grille, du rufst nicht mehr, aber rufe du wieder! Ach rufe!

Grille, du rufst nicht mehr, aber rufe du wieder! Ach rufe.

 

Die einzelnen Fassungen dieser Anrede, zwischen denen immer etwa 20 Verse liegen, unterscheiden sich oft nur durch ein einziges Satzzeichen; und doch ist keine dieser Fassungen in ihrer Versbewegung gleich einer anderen! Meine Lieblingsfassung stelle ich nun an den Schluss dieses Eintrags, das ist dann das „Ein-Vers-Gedicht“, von dem dieser Eintrag der Überschrift nach ja handelt:

 

Grille, du rufst und rufst, und rufst noch immer! Was rufst du?

 

Was geschieht nun mit diesem Vers, wenn er herausgelöst für sich allein steht – ist der Inhalt so noch verständlich? Schwerlich; aber der Inhalt macht für mich auch nicht den Reiz des Verses aus, der liegt in der Art, wie sich die Sprache bewegt; und durch Klang und Bewegung prägt sich der Vers eigentlich sofort ein, ist, so gesehen und gehört: ein Gedicht.

Schreibe einen Kommentar

Deine E-Mail-Adresse wird nicht veröffentlicht. Erforderliche Felder sind mit * markiert