In den bisher schon vorgeführten Siebenzeilern spielte die Kanzonenform eine wichtige Rolle: Ein Aufgesang, bestehend aus zwei zweizeiligen, gleichen Stollen, und ein dreizeiliger Abgesang. Dieser unterscheidet sich zumindest im Reim, kann aber auch ein leicht anderes Metrum aufweisen! Ein Beispiel für letzteres ist Friedrich Rückerts „Frühlingsruf“:
Am Bienenhause liegt der Strahl
Der Sonn‘ und weckt die Bienen;
Zur Arbeit möchten sie in’s Tal,
Allein, was wehrt es ihnen?
Ach, das Tal noch kahl zumal
Liegt im winterlichen Bann,
Ohne Blum‘ und Blüten.
Und auch den Finken regt das Licht,
Das helle, hell zu schlagen;
Warum doch schicket er sich nicht,
Gepaart zu Nest zu tragen?
Weil noch licht, weil dicht noch nicht
Laub und Blatt der Baum gewann,
Um ein Nest zu hüten.
In diesen Lüften webest du,
Und schwebst aus diesen Strahlen;
Was hebest du die Todesruh‘
Nicht auch von diesen Talen?
Frühling tu dazu im Nu,
Dass der Kunstfleiß sammeln kann,
Und die Liebe brüten!
Hier nutzt der Aufgesang den vierhebigen Iambus, der Abgesang dagegen den vierhebigen Trochäus – ein deutlicher Unterschied in der Wirkung! Aber auch die Gestaltung der Reime ist auffällig: Die Stollen sind ab, ab gereimt, der erste Vers des Abgesangs nimmt dann noch dreimal (!) den a-Reim auf, wonach der vorletzte und der letzte Vers innerhalb der Strophe reimlos bleiben, allerdings strophenübergreifend mit den Schlussversen der anderen beiden Strophen reimen! Alles sehr eigenartig … Ins Bild passt all der andere „Klangschmuck“, den Rückert einbaut: das „liegt, winterlichen, Bann, Blum, Blüten“, was die beiden Schlussverse der ersten Strophe verklammert und in der zweiten Strophe gleichfalls wieder aufgenommen wird: „Laub, Blatt, Baum, gewann“. Die dritte Strophe will davon dann nichts mehr wissen, streut aber dafür noch einen Dreifachreim ein, „webest, schwebst, hebest“; Und noch verschiedenes anderes, so dass, als es zu dem eigentlich fast albernen „tu dazu im Nu“ kommt, der Leser schon alles hinzunehmen bereit ist und es nicht weiter auffällt …
Wie ernst man das nehmen sollte? Keine Ahnung. Ich bin mir aber ziemlich sicher, dass Rückert, der in Bezug auf die Versgestaltung über unglaubliche Möglichkeiten verfügte, hier seinen Spaß hatte beim Ausreizen dieser Möglichkeiten!