Strophen haben ihre Schicksale

Sicherlich kann eine einigermaßen regelmäßig gebaute Strophe jeden beliebigen Inhalt aufnehmen. Oft war es aber so, dass ein Dichter in einer Strophe ein berühmtes Gedicht geschrieben hat, und dass die so bekannt gewordene Strophe danach vor allem für Gedichte ähnlichen Inhalts genutzt wurde!

Ein Beispiel ist die Strophe von Gottfried August Bürgers bahnbrechender Ballade „Leonre“:

 

Der König und die Kaiserin,
Des langen Haders müde,
erweichten ihren harten Sinn,
Und machten endlich Friede;
Und jedes Heer, mit Sing und Sang,
Mit Paukenschlag und Kling und Klang,
Geschmückt mit grünen Reisern,
Zog heim zu seinen Häusern.

 

Ein Achtzeiler, zusammengesetzt aus zwei Vierzeilern – einer sehr bekannten Kreuzreimstrophe aus Vier- und Dreihebern, gefolgt von einer selteneren Strophe aus zwei Reimpaaren, die aber wieder aus Vier- und Dreihebern bestehen!

Bürgers Ballade war ein großer Erfolg, und die „Lenorenstrophe“ wurde fürderhin vor allem für Balladen oder, allgemeiner, Erzählgedichte gebraucht.

Zu den Ausnahmen zählt „Die Kunst zu reimen“ von Karl Geisheim, eine sehr launige Abrechnung mit der Durchschnittsreimerei der Zeit:

 

Oft widerspenstig ist der Reim,
Gleich einer Doris Laune;
Doch der Poet kocht Götterleim
Und bricht den Reim vom Zaune.
Das Missgeschick führt er auf Glück,
Das Herz voll Schmerz auf Scherz zurück,
Und selbst dem Hoffnungslosen
Macht Hosen er aus Rosen.

 

Nicht, dass Geisheim den inneren Notwendigkeiten der Strophe weniger Aufmerksamkeit schenkte als Bürger; er füllt sie nur mit einem anderen Inhalt, und obwohl sie so einerseits erkennbar bleibt und dem Ohr vertraut klingt, ist doch der verwirklichte Inhalt etwas ganz anderes und sorgt für einen deutlich verschiedenen Höreindruck?!

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