Peter Hacks: Die Maßgaben der Kunst
Dieser zuletzt 2010 bei Suhrkamp erschienene Band ist nicht wirklich ein „Buch zum Vers“, eher ein zum Theater, eigentlich aber eines zu allem möglichen; aber hier und da findet sich auf seinen beeindruckenden 1200 Seiten doch etwas über den Vers, und wenn, dann ist es eigentlich immer die Zeit wert, die man braucht, es zu durchdenken. So finden sich gleich am Anfang fünf Seiten „Über den Vers in Müllers Umsiedlerin-Fragment“, und an deren Anfang (S. 39) diese Sätze:
Über das Grundprinzip der Verslehre sind sich die Metriker inzwischen einig geworden. Wert, Schönheit und Leben eines Verses beruhen nicht auf der Identität von Metrum und Rhythmus, sondern auf ihrem Widerspruch. Iamben, bei denen der natürliche Tonfall der Sprache, Hebung für Hebung und Senkung für Senkung, mit dem Versschema zusammenstimmt, sind keine guten Iamben, sondern schlechte. Vielmehr ist die Dialektik die: das Metrum setzt ein Erwartungsschema, und in dem Wechsel von Erfüllung und Nichterfüllung der Erwartung liegt der ästhetische Reiz. Weit entfernt davon, Fehler zu sein, gehören Abweichungen vom Metrum gerade zum Wesen der gebundenen Sprache: sie machen die formale Schönheit, und sie sind das einzige Mittel, inhaltliche Akzente in formale Akzente umzusetzen: sie ermöglichen Betonung.
Wie groß „die Einigkeit der Metriker“ diesbezüglich ist, mag ich nicht beurteilen, und inwieweit widerum die Verschaffenden mit den Metrikern einig sind, kann ich schon überhaupt nicht sagen; aber wahr sind sie schon, diese Sätze, und der Welt wären eine Menge schlechter Verse erspart geblieben, wäre immer schon auf sie gehört worden …