Nochmal zurück zu den „Einschnitten an anderen Stellen“ – da kann man eigentlich alles versuchen; nur bei zwei Schnitten ist Vorsicht geboten. Das ist, zum einen, der Schnitt in der genauen Mitte des Verses:
x X x X x X || x X x X x X
Durch diesen Einschnitt zerfällt der Vers in zwei genau gleiche Teilverse, und wenn das in einem Text zu oft geschieht, hört das Ohr am Ende nur noch die kürzeren Verse statt eines unterteilten langen. Das sollte man tunlichst vermeiden, und daher auch diesen Einschnitt wirklich nur sehr selten in den Text lassen!
Der zweite Fall liegt ähnlich – hier gibt es zwei Einschnitte, wogegen an sich nichts zu sagen ist; nur teilen diese beiden Schnitte den Text in drei gleichgroße Teilverse:
x X x X || x X x X || x X x X
Das klingt nicht ganz so deutlich durch wie der erste Fall, aber ich denke, man sollte trotzdem sparsam umgehen mit diesem Einschnitt.
Ich lasse einen etwas längeren Text von Conrad Ferdinand Meyer folgen. Er hat einen antiken Gegenstand, Achill; für solche Inhalte bietet sich der Vers durch seine Herkunft sicher auch an. Aber eigentlich kann man ihn für jedweden Inhalt nutzen, und man hat es auch!
Am Ende des Textes schaue ich dann noch auf einige Verse mit Hinblick auf die Schnitte.
Der tote Achill
Im Vatikan vor dem vergilbten Marmorsarg,
Dem ringsum bildgeschmückten, träumt ich heute lang,
Betrachtend seines feinen Zierats üppgen Kranz:
Thetis entführt den Sohn, den Rufer in der Schlacht,
Den Renner, dem die Knie erschlaffen, welchem schwer
Die Lider sanken – von Delphinen rings umtanzt,
Im Muschelwagen durch des Meers erregte Flut.
Tritonen, bis zum Schuppengurt umbrandete,
Bärtge Gesellen, schilfbekränztes, stumpfes Volk,
Gebärden sich als Pferdelenker. Es bedarf
Der mutgen Rosse Paar, das, Haupt an kühnem Haupt,
Die weite Flur durchrudert mit dem Schlag des Hufs,
Des Zügels nicht! In des Peliden Waffen hat
Sich schäkernd ein leichtsinniges Gesind geteilt:
Die Nereiden. Eine hebt das Schwert und ziehts
Und lacht und haut und sticht und wundet Licht und Luft.
Ein schlankes Mädchen zielt mit rückgebognem Arm,
In schwachgeballter Faust den unbesiegten Speer,
Der auf und nieder, wie der Waage Balken, schwankt.
Die dritte schiebt der blanken Schulter feinen Bug
Dem Erzschild unter, ganz als zöge sie zu Feld,
Dann deckt damit den sanften Busen gaukelnd sie,
Als schirmt‘ das Eisen eines Kriegers tapfre Brust.
Die vierte – Held, du zürntest, schlummertest du nicht! –
Setzt jubelnd sich den Helm, den wildumflatterten,
Auf das gedankenlose Haupt und nickt damit.
Scherzt Kinder! Nur mit dir ein Wort, Vollendeter!
(Denn mit der Mutter, die dein schlummerschweres Haupt
Im Schoss gebettet hält, der dir das Leben gab,
Der schmerzversunknen Mutter, plaudert es sich nicht.)
Pelide, sprich! Was ist der Tod? Wohin die Fahrt;
Wozu die Waffen? Zu erneutem Lauf und Kampf?
Zu deines Grabes Schmuck und düstern Ehren nur?
Was blitzt auf deinem Schwerte? Deine letzte Tat,
Verglimmend wie der Abend eines heissen Schlachtentags?
Die Morgensonne eines neuen Kampfgefilds?
Bedarfst du deines Schwertes noch, du Schlummernder?
Wohin der Lauf? Zum Hades? Nein, es lügt Homer!
Den Odem neiden einem kleinen Ackerknecht
Sieht nicht dir ähnlich, Heros! Eher fährst
Du einer Geisterinsel bleichem Frieden zu
Und trägst den Myrtenkranz, beseligt und gestillt,
Mit den Geweihten. Doch auch solches ziemt dir nicht!
Was einzig dir geziemt, ist Kampf und Kampfespreis –
Pelide! ein Erwachen schwebt vor deinem Boot
Und schimmert unter deinem mächtgen Augenlid!
Du lebst, Achill? Gib Antwort! Wohin wanderst du?
Er schweigt! Er schweigt. Der Wagen rollt. Ein Triton bläst
Sein Muschelhorn, dass leis und dumpf der Marmor tönt.
Viele Verse haben zwei Einschnitte, und von denen einige die oben beschriebenen Schnitte, die den Vers in vier-vier-vier Silben zerfallen lassen:
Pelide, sprich! || Was ist der Tod? || Wohin die Fahrt;
Wie gesagt – da spricht auch nichts gegen; nur in Mengen sollten solche Verse nicht vorkommen. Dann besser solche:
Wohin der Lauf? || Zum Hades? || Nein, es lügt Homer!
Wieder eine Dreiteilung durch zwei Einschnitte; aber diesmal ist das Siblenverhältnis vier-drei-fünf!
Scherzt Kinder! || Nur mit dir ein Wort, || Vollendeter!
Noch ein anderes Verhältnis, drei-fünf-vier.
Den Renner, || dem die Knie erschlaffen, || welchem schwer
Und noch diese Möglichkeit zum Abschluss: drei-sechs-drei! Alles das und noch mehr ist möglich. Die Verse mit einem Einschnitt haben diesen aber sehr selten genau in der Mitte des Verses! Sicher ein Hinweis, mit diesem Einschnitt vorsichtig zu sein.
In den gezeigten Versen sind die Einschnitte sehr tief, was sie zu guten Beispielen macht; aber die meisten Verse haben natürlich weniger heftige Schnitte, egal, ob es einer ist oder ob zwei vorkommen. Wenn man sich in die Trimeter einschreibt, lohnt es sich auf jeden Fall, Texte wie diesen Vers für Vers durchzugehen und sich die Einschnitte bewusst zu machen; denn von ihrem klugen Einsatz hängt sehr viel ab!
Wobei ich nicht verschweigen möchte, dass dieser Text hier auch steht, weil er mir sehr gut gefällt. Das antike Thema muss man nicht mögen; aber die Art, wie Meyer hier die Sprache fließen und vor allem tönen lässt, hat für mich großen Reiz!