Erzählverse: Der iambische Trimeter (2)

Wie schon erwähnt: Längere Verse brauchen einen Einschnitt, eine Sinn- und damit Sprech-Pause im Versinneren, die sie in Teilverse zerlegt und so davor bewahrt, gestalt- und formlos zu wirken. Im Trimeter kommt dieser Einschnitt in den meisten Fällen entweder nach der fünften Silbe oder nach der siebten Silbe:

x X x X x || X x X x X x X

x X x X x X x || X x X x X

Ein kurzes Gedicht von Emanuel Geibel zeigt, wie diese Einschnitte im wirklichen Text aussehen:

In ein Album
Nach Lamartine

Das Buch des Lebens liest sich nur ein einzig Mal;
Du kannst darin nicht blättern, wie’s dir wohlgefällt,
Noch bei der Stelle weilen, die dich fesselte;
Denn unerbittlich wenden sich die Blätter um.
Zum Abschnitt „Lieben“ kehrten wir zurück, wie gern!
Und sind schon auf der Seite, wo es „Sterben“ heißt.

Hier folgen die Einschnitte im Wechsel mal nach der fünften, mal nach der siebten Silbe. Ich trage sie ein:

Das Buch des Lebens || liest sich nur ein einzig Mal;
Du kannst darin nicht blättern,  || wie’s dir wohlgefällt,
Noch bei der Stelle weilen, || die dich fesselte;
Denn unerbittlich || wenden sich die Blätter um.
Zum Abschnitt „Lieben“ || kehrten wir zurück, wie gern!
Und sind schon auf der Seite,  || wo es „Sterben“ heißt.

Durch diese Einschnitte bekommt der Vers eine ganz bestimmte Bewegung: Die erste Hälfte beginnt immer auf einer unbetonten Silbe und endet auch auf einer unbetonten Silbe; die zweite Hälfte beginnt mit einer betonten Silbe und schließt mit einer betonten Silbe.

Einschnitte an anderen Stellen sind natürlich möglich, nur sollte ein recht hoher Anteil der Verse doch diese Einschnitte nach der fünften und siebten Silbe haben. Was sonst noch möglich ist, verhandelt der nächste Beitrag!

Wie gänzlich anders ein Vers mit der genau gleichen Silbenverteilung, aber anderen Einschnitten sich bewegt und klingt, kann man an Conrad Ferdinand Meyers berühmtem „Die Füße im Feuer“ erkennen. Hier der Anfang:

Wild zuckt der Blitz. In fahlem Lichte steht ein Turm.
Der Donner rollt. Ein Reiter kämpft mit seinem Roß,
Springt ab und pocht ans Tor und lärmt. Sein Mantel saust
Im Wind. Er hält den scheuen Fuchs am Zügel fest.

Nicht nur die Haupt-Einschnitte, sondern auch die allermeisten „kleinen“ Sinneinschnitte liegen hinter betonten Silben! Ich versuche wieder, sie einzutragen:

Wild zuckt der Blitz. || In fahlem Lichte | steht ein Turm.
Der Donner rollt. || Ein Reiter kämpft | mit seinem Roß,
Springt ab | und pocht | ans Tor | und lärmt. || Sein Mantel saust
Im Wind. | Er hält || den scheuen Fuchs | am Zügel fest.

Manches kann man natürlich auch anders lesen, aber ich denke, es wird klar, dass dies eine gänzlich andere Art von Vers ist als der „eigentliche“ Trimeter, der einen Einschnitt nach der unbetonten fünften oder siebten Silbe hat; nicht immer, aber in der deutlichen Mehrzahl der Verse.

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