Hinter einer Form, die in allgemeinen Gebrauch kommt, steht meistens ein großes Werk, dass diese Form beispielhaft verwendet. Der Hexameter zum Beispiel wäre in der Mitte des 18. Jahrhunderts nicht schlagartig beliebt geworden, hätte Klopstock nicht mit seinem „Messias“ ein diesen Vers verwendendes Werk vorgelegt, das seine Zeitgenossen tief beeindruckt und begeistert hat!
In Bezug auf die Stanze spielt (auch) Ludovico Ariostos „Der rasende Roland“ diese Rolle. Fünf Stanzen daraus in der klassischen Übersetzung von Johann Diederich Gries – die Beschreibung der Zauberin Alcina:
Was kunsterfahr’ne Maler je erfunden,
Reicht an die Schönheit ihrer Bildung nicht.
Die blonden Haare, lang und aufgewunden,
Besiegen selbst des Goldes glänzend Licht.
Mit Rosen haben Lilien sich verbunden
Und überstreun ihr zartes Angesicht.
Die heitre Stirn, in ihres Maßes Reine,
Scheint wie geformt aus glattem Elfenbeine.
Zwei schwarze Bogen, fein und zart, umhegen
Ein schwarzes Augen- nein, ein Sonnenpaar,
Im Blicken zärtlich, sparsam im Bewegen.
Da nimmt man Amor, scherzend, fliegend wahr;
Da sendet er herab der Pfeile Regen
Und raubt die Herzen, jedem offenbar.
Die Nas‘, absteigend mitten im Gesichte,
Macht auch des Neides Tadelsucht zunichte.
Dann folgt der Mund, von Grübchen hold umfangen,
Und mit natürlichem Karmin bedeckt,
In dem zwei Schnür‘ erlesner Perlen prangen,
Bald von der Lipp enthüllt und bald versteckt.
Da kommt die holde Red‘ hervorgegangen,
Die auch im rausten Herzen Milde weckt;
Da sieht man oft das süße Lächeln werden,
Das, wie es will, den Himmel bringt zur Erden.
Der Hals ist Schnee, und Milch die Brust; vollkommen
Gerundet jener, diese voll und breit.
Ein Äpfelpaar, dem Elfenbein entnommen,
Wallt auf und ab, wie bei der Lüfte Streit
Am Uferrand die Wellen gehn und kommen.
Vom andern gäb‘ auch Argus nicht Bescheid;
Doch schließt man wohl, es müsse das Versteckte
Dem ähnlich sein, was sich dem Aug‘ entdeckte.
Den Armen ist das rechte Maß gespendet,
Und oftmals wird die zarte Hand geschaut,
Die, länglich, schmal, durch ihre Weiße blendet;
Nicht Ader spannt noch Knöchel ihr die Haut.
Die ganze herrliche Gestalt vollendet
Der kurze Fuß, rundlich und wohlgebaut.
Den Engelreiz, im Himmel selbst entsprossen,
Hielt auch der dichtste Schleier nicht verschlossen.
Vierzig Verse, Alcina wörtlich vom Kopf bis zum Fuß zu beschreiben, und das in nicht sehr eigenständigen Bildern. Wobei die Schönheit, wohlgemerkt, die „Böse“ ist, die sich alle paar Monate einen neuen Mann als Liebhaber nimmt und den jeweiligen Vorgänger in Steine oder Bäume oder Quellen verwandelt …
„Erwischt“ hat es Rüdiger, der eigentlich vergeben ist. Aber:
Und glatt aus seinem Herzen ist verschwunden
Die schöne Jungfrau, der er’s einst verlieh.
Alcina wusch von alten Liebeswunden
Es völlig rein durch mächtige Magie;
Auch wird nichts andres mehr in ihm gefunden,
Als sie allein und Zärtlichkeit für sie.
Und dieser Bann entschuldigt ihn notwendig,
Wenn er sich leicht bewies und unbeständig.
Jaja. Aber die Frage bleibt – ist das wirksam? Ich denke, ja; und das hat viel mit dem Umstand zu tun, dass hier in Versen erzählt wird, und auch damit, dass hier die Stanze verwendet wird.
Der „rasende Roland“ hatte übrigens 2016 fünfhundertsten Geburstag, und aus diesem Anlass rückte er wieder ein wenig in den Blick; die NZZ hatte zum Beispiel einen Artikel von Christine Wolter, Frauen, Ritter, Liebeswahn. Kann man lesen!