Erzählformen: Die Stanze (3)

Die im vorigen Beitrag angesprochenen Schwierigkeiten, oder besser: Besonderheiten, die sich bei dem Versuch ergeben, aus einer italienischen Strophenform eine deutsche Strophenform zu machen, hat die deutschen Dichter lange umgetrieben; Christoph Martin Wieland hat dabei seine eigenen Lösungen gefunden. In der Vorrede zu seinem Versepos „Idris und Zenide“ schreibt er:

Das folgende Gedicht ist der erste Versuch, den der Verfasser in einer Art von Stanzen, die den Ottave rime der Italiener ähnlich sind, gewagt hat.

Der Unterschied besteht darin, dass in den Stanzen, worin Bojardo, Ariost, die beiden Tassos, Marino und so viele andere gedichtet haben, alle Zeilen gleich viel Silbenfüße zählen, dass alle Reime weiblich sind, und dass die beiden Reime, an welche die ersten sechs Zeilen gebunden sind, immer auf einerlei Art alternieren, so dass immer die dritte und fünfte Zeile auf die erste, die vierte und sechste aber auf die zweite reimen: da hingegen in den Stanzen des Idris 1) Jamben von acht und neun, zehn und elf, zwölf und dreizehn Silben nach Gutbefinden gebraucht werden; 2) die zwei Reime der sechs ersten Zeilen, ebenfalls nach Willkür, bald wechselweise verschränkt, bald auf jede andre mögliche Art zusammengeordnet sind, und endlich 3) männliche und weibliche Reime abwechselnd und nach Belieben die erste oder letzte Stelle der Stanze einnehmen können.

Diese Freiheit, welche die Natur unsrer etwas ungeschmeidigen Sprache bei einem ersten Versuche wo nicht notwendig zu machen, doch wenigstens zu entschuldigen schien, kann in den Händen eines Dichters, der mit einem Ohr für Wohlklang und Numerus begabt ist, zu einer reichen Quelle musikalischer Schönheiten werden, wodurch diese freiere Art von Stanzen einen wahren Vorzug vor den strengern Ottave rime erhält. Die Monotonie der letztern, die in einem großen Gedichte endlich sehr ermüden müsste, wird dadurch vermieden, und ein weit schönerer Periodenbau, mit einer sehr mannigfaltigen, oft nachahmenden, immer dem Ohre gefälligen Eurythmie und Singbarkeit (wenn ich so sagen darf) in diese Versart gebracht; Vorteile, wovon ganz gewiss kein geringer Teil des Vergnügens abhängt, welches auch solche Leser, die der Prosodie und Versifikation ganz unkundig sind, an Idris und Oberon gefunden haben.

„Oberon“ ist ein anderes Versepos Wielands. Die unterschiedliche Verslänge lässt sich in folgender Stanze, die zufällig die gewöhnliche Reimstellung und die gewöhnliche Verteilung der Versschlüsse hat, gut einschätzen – „ein junger Ritter“ ist im Begriff, ein Bad zu nehmen:

 

Er schnallt den Harnisch ab, legt Helm und Lanze nieder,
Und überlässt der lauen Flut
Den frischen Reiz der jugendlichen Glieder.
Ihr unbefleckter Schnee, getuscht mit Rosenblut,
Scheint aus den Spiegelwellen wieder,
So wie der Sonne Bild von glattem Marmor tut,
Ihm hätte kaum (die Wahrheit zu gestehen)
Die alte Vesta selbst kaltblütig zugesehen.

 

Und doch: Die von Wieland genannten Vorzüge sind deutlich erkenn- und vernehmbar!

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