Der Blankvers kam zuerst in England auf, das war in der Mitte des 16. Jahrhunderts. Zweihundert Jahre später fand er dann in größerem Maße Eingang in die deutsche Dichtung, und seitdem ist er in der einen oder anderen Weise ein Bestandteil des dichterischen Werkzeugkastens geblieben. Im Silbenschema sieht ein Blankvers so aus:
x X x X x X x X x X (x)
Dabei meint X eine betonte Silbe, x eine unbetonte Silbe, und (x) eine unbetonte Silbe, die stehen kann, aber nicht stehen muss. Das heißt dann, in Worten: Ein Blankvers ist ein Vers von zehn oder elf Silben, der abwechselnd betonte und unbetonte Silben enthält; die erste Silbe ist unbetont.
Meistens hat der Vers eine „Zäsur“, einen Einschnitt; deren Stelle im Vers ist aber frei (und daher im Silbenschema nicht eingetragen), und manchmal fehlt sie auch ganz.
Ein Blankvers-Text entsteht, wenn Verse dieser Art gereiht werden, Strophenformen oder eine bestimmte, vorgegebene Versanzahl gibt es nicht.
Blankverse werden untereinander nicht durch Reime verbunden; der Blankvers ist also ein reimloser Vers – daher auch sein Name …
So, das war es eigentlich schon! Damit es nicht zu trocken wird, gebe ich für diese „reine“ Form des Verses gleich mal ein Beispiel, den Anfang von Emanuel Geibels „Eine Seeräubergeschichte. Erzählung eines alten Steuermanns“. Geibel beherrschte alle Versformen sicher, seine Texte sind aber immer etwas dröge, weil sie sich oft mit der reinen Erfüllung der Vers-Vorgaben begnügen. Als Beispiel eignen sie sich darum umso besser!
Wir hatten Öl geladen und Korinthen
Und segelten vergnügt mit unsrer Fracht
Von Malta auf Gibraltar, Jochen Schütt,
Der Lüb’sche Kapitän, mit fünf Matrosen,
Und ich, Hans Kiekebusch, als Steuermann.
Der Wind blies lustig, und wir waren schon
Sardinien vorbei, als hinter uns
Nordoster ein verdächtig Segel aufkam,
Das wie mit Siebenmeilenstiefeln lief.
Bedenklich kuckte Jochen Schütt durch’s Glas
Und schüttelte den Kopf und kuckte wieder,
Und immer länger ward sein schlau Gesicht.
Verdammte Suppe! brach er endlich los,
Der Haifisch soll mich schlucken, wenn das nicht
Tuneser sind, Spitzbuben, die’s auf uns
Und unsern schmucken Schoner abgesehn!
Bei Gott, jetzt heißt es: Alles Weißzeug los
Und stramm gesegelt!
Hier fügen sich die Sätze völlig zwanglos und natürlich in die Verse ein, alles liest sich locker und leicht; wenn der Vers die Sprache formt, dann wirklich nur so weit, dass gerade eben ein Eindruck gestalteter Sprache entsteht, der den Text von der Prosa abhebt.
Alles, was uns etwas seltsam klingt, tut das nicht wegen des Versbaus:
– „Lübsche“ ist heute eher „Lübecker“, geht aber.
– „Sardinien vorbei“ statt „an Sardinien vorbei“ , „Akk. + vorbei“ statt „an + Dat. + vorbei“ war früher die Norm.
– „verdächtig Segel“, „schlau Gesicht“, endungsloses Adjektiv vor Neutrum gab’s in der Literatur bis ins 19. Jahrhundert.
– „Tuneser“ kennt der Duden als Nebenform zu „Tunesier“.
Die einzige Stelle, die etwas eigen klingt, ist der „Spitzbuben“-Vers; darauf soll aber ein späterer Beitrag eingehen. Diesen hier ende ich jetzt und gebe nur noch eine grobe Übersicht, was ich mir so vorstelle als Stoff der weiteren Beiträge:
– Die Zäsur, der Einschnitt: Warum, an welchen Stellen, mit welcher Wirkung?
– Das Versende: Was bewirkt eine betonte Silbe als Vers-Schluss? Was eine unbetonte?
– Zeilensprung: Wie wirkt es, wenn sich Vers und Satz entsprechen, wie, wenn sie es leicht oder stark nicht tun?
– Der Blankvers kann alles: Drama, lyrische Gedichte, erzählende Gedichte … Wo liegen die Unterschiede in der Versbehandlung?
– Was bewirkt das Einstreuen längerer oder kürzerer Verse?
– Wie klingt der Vers, wenn manchmal zwei unbetonte Silben gesetzt werden statt einer?
– Wie verändert sich der Vers, wenn der regelmäßige Wechsel von unbetonter und betonter Silbe im Versinneren missachtet wird?
– Wie passen „nicht-abwechselnde“ Wörter in den Vers (Beispiel: „Spitzbuben“)?
– Wie klingt der Blankvers im Wechselspiel mit anderen Textformen – Prosa, gereimte Verse?
Sicher muss man nicht über alle die gerade angeführten Punkte Bescheid wissen, um schon mal loslegen zu können mit dem Blankverse-Schreiben; aber andererseits schadet es nicht, über all diese Dinge einmal nachgedacht zu haben.