Dieser Beitrag soll ganz allgemein von der „Zäsur“ handeln; vom Einschnitt im Versinneren. Einfach, weil das für einen Vers eine wichtige Größe ist!
Allerdings nicht für jeden Vers. Alternierende Verse mit vier Betonungen kommen auch gut ohne einen Einschnitt aus; Verse mit sechs Betonungen brauchen eigentlich immer einen Einschnitt, da sie sonst „lichtlos“ wirken, wie Emil Staiger das so schön genannt hat – sie haben keine klare, überzeugende Gliederung, sondern wälzen sich dahin wie eine trübe Flut.
Bei Versen mit fünf Betonungen, wie der Blankvers einer ist, liegt die Wahrheit dazwischen: Wenn es sein muss, kommen sie ohne Einschnitt aus, aber die meisten haben einen. Besonders, wenn man gerade erst in das Schreiben solcher Verse einsteigt, empfiehlt es sich, einen Einschnitt zu setzen!
Ich gebe als Beispiel das Ende von Rainer Maria Rilkes „Orpheus. Eurydike. Hermes“, wie der vorige Text von Geibel ziemlich streng in der Erfüllung des „eigentlichen“ Blankvers-Schemas:
Fern aber, dunkel vor dem klaren Ausgang,
stand irgend jemand, dessen Angesicht
nicht zu erkennen war. Er stand und sah,
wie auf dem Streifen eines Wiesenpfads
mit trauervollem Blick der Gott der Botschaft
sich schweigend wandte, der Gestalt zu folgen,
die schon zurückging dieses selben Weges,
den Schritt beschränkt von langen Leichenbändern,
unsicher, sanft und ohne Ungeduld.
„Einschnitt“ meint einen „Sinn-Einschnitt“, der ja oft mit einem Einschnitt im Satz einhergeht (und einer Sprechpause); Satzzeichen sind also meist ein ganz guter Hinweis auf eine Zäsur, auch wenn es da keine vollständige Übereinstimmung gibt! Aber hier nehme ich diese Gleichheit der Einfachheit halber mal an … In den Versen ohne Satzzeichen liegt die Zäsur im allgemeinen zwischen zwei Sinneinheiten:
Fern aber, || dunkel vor dem klaren Ausgang,
stand irgend jemand, || dessen Angesicht
nicht zu erkennen war. || Er stand und sah,
wie auf dem Streifen || eines Wiesenpfads
mit trauervollem Blick || der Gott der Botschaft
sich schweigend wandte, || der Gestalt zu folgen,
die schon zurückging || dieses selben Weges,
den Schritt beschränkt || von langen Leichenbändern,
unsicher, || sanft und ohne Ungeduld.
Wobei, siehe oben, der Einschnitt etwa im letzten Vers auch nach „sanft“ liegen könnte; eine Sprechpause ist da allemal möglich.
Aber, worauf es eigentlich ankommt: Der Einschnitt sitzt in fast jedem Vers an einer anderen Stelle als im Vers davor!
x X x || X x X x X x X x
x X x X x || X x X x X
x X x X x X || x X x X
x X x X x || X x X x X
x X x X x X || x X x X
x X x X x || X x X x X x
x X x X x || X x X x X x
x X x X || x X x X x X x
x X x || X x X x X x X
Das sorgt dafür, dass die „Teilverse“, die durch dem Einschnitt entstehen, von Vers zu Vers unterschiedlich sind, so dass das Ohr zwar mit jedem Vers die Blankvers-Bewegung übermittelt bekommt, sich aber trotzdem keine Gleichförmigkeit einstellt, da ja die Sinn- und Sprecheinheiten [i]innerhalb[/i] der Grund-Bewegung immer verschieden sind! Zu dieser Wirkung trägt natürlich auch das Versende bei, das ja „betont“ oder „unbetont“ besetzt sein kann.
So, wie ich hier die Einschnitte gesetzt habe (es gibt oft mehr als eine Möglichkeit), sind nur zwei benachbarte Verse im Aufbau völlig gleich:
sich schweigend wandte, der Gestalt zu folgen,
die schon zurückging dieses selben Weges,
Aber auch die unterscheiden sich spätestens im Vortrag; ich glaube zum Beispiel, dass ich nicht gegen die Sprache handele, wenn ich im zweiten Vers im vorderen Teil „x x x X X“ lese, „die schon zurück–ging, während der erste Vers hier ruhig wechselt zwischen betont und unbetont; und umgekehrt in der zweiten Hälfte des ersten Verses „x x X x X x“ „der Gestalt zu folgen“, während diesmal die zweite Hälfte des zweitens Verses den strengen Wechsel hat.
Na, wie auch immer die Feinheiten hier aussehen – was ich vermitteln möchte, ist einfach dieses: „Du sollst deinen Leser-Hörer nicht langweilen“ ist der allererste Grundsatz allen Schreibens, und beim Verse-Schreiben ist eine von vielen Stellen, an denen man das Nicht-Langweilen erreichen kann, der innere Bau des Verses, der maßgeblich durch seine Zäsur bestimmt wird.
Wer den Blankvers selbst versucht, muss jetzt nicht bei jedem Vers peinlich genau auf einen Einschnitt achten, keine Sorge! Aber dass er da ist, und wirkt; das zu wissen hilft schon viel, sowohl beim Schreiben als auch beim Lesen.