Ging es im letzten Beitrag um den Einschnitt in der Mitte des Verses, so soll es hier darüber hinaus um das Versende gehen.
So wie ein Satz ein Ende hat, und im Inneren eine Unterteilung in mehrere Glieder; so hat auch ein Vers ein Ende und ist unterteilt. Nun können sich Satz- und Versende auf zwei Arten zueinander verhalten: Entweder sie entsprechen sich, dann endet der Satz mit dem Vers, und oft sind beide deckungsgleich. Oder aber, der Satz geht über das Versende hinweg, dann endet der Satz aller Wahrscheinlichkeit nach im Einschnitt des Folgeverses. Natürlich kann ein Satz sich auch über mehrere Verse erstrecken, aber ich bleibe mal, im wesentlichen, bei diesen beiden Möglichkeiten – der Satz endet am Versende, der Satz endet in der (folgenden) Versmitte -, weil sie den Blankvers ganz unterschiedlich klingen lassen!
Als Beispiel für das „Satzende in der Versmitte“ nehme ich Ewald von Kleists „Cißides und Paches“, im Erscheinungsjahr 1759 einer der allerersten Blankvers-Texte im Deutschen. Der vorgestellte Abschnitt klingt altersbedingt etwas seltsam, aber ich denke, da sollte man nicht zu schnell urteilen – Kleist war ein wirklicher Dichter, und wenn man sich einlässt, dann merkt man das auch schnell. Beschrieben wird eine Belagerung:
Den tapfern Parmeo durchbohrt ein Pfeil;
Simotes auch. Dem Zelon, der allein
Ein Heer an Mut und Geiste war, zerschlug
Ein Felsstück beide Bein‘. Er lebte lang
Ein grausam Leben, und verbiss den Schmerz
Voll Großmut. Endlich fand sein Bruder ihn
Im Kampf mit Schmerz und Tod, und schlug, erblasst,
Die Hände über sich zusammen. Selbst
Dem Tode für Entsetzen nah, verband
Er den Geliebtesten. Ein Tränenbach
Floss ihm vom Aug. „Ach Bruder, endige
Mein Leben! Endig es, o du, um den
Es mir allein gefiel“, sprach Zelon. „Nimm
Mein unnütz Gold von mir, dass du, und nicht
Der Feind verdient“ – allein der Bruder weint,
Und ging davon. „Verlässest du mich auch?“,
Rief Zelon, „Gönnst du mir langsamen Tod?“
Das wichtige ist nun aber auch nicht der Inhalt, sondern die Art, wie Kleist die (übrigens immer betont endenden) Verse und die Sätze daran hindert, sich zu entsprechen. Wieder und wieder wird der „Punkt“ in der Versmitte gesetzt, und manchmal sogar kurz vor Versende, so dass nur noch ein Wort des neuen Satzes den Vers schließt. Hier stehen Satz und Vers also im Streit, und oft ist die Pause in der Versmitte so lang, dass sie den Vers fast zerreißt; so wie der Vers den Satz zerreißt.
(Wer es wissen möchte – der Bruder kehrt zurück und tötet Zelon, indem er ihm einen Pfeil ins Herz schießt.)
Als Gegenstück bemühe ich Johann Wolfgang Goethes „Iphigenie“, also zum ersten Mal einen Dramentext als Beispiel. Thoas im Gespräch mit Iphigenie:
Drum endige dein Schweigen und dein Weigern!
Es fordert dies kein ungerechter Mann.
Die Göttin übergab dich meinen Händen;
Wie du ihr heilig warst, so warst du’s mir.
Auch sei ihr Wink noch künftig mein Gesetz:
Wenn du nach Hause Rückkehr hoffen kannst,
So sprech ich ich dich von aller Fordrung los.
Doch ist der Weg auf ewig dir versperrt,
Und ist dein Stamm vertrieben oder durch
Ein ungeheures Unheil ausgelöscht,
So bist du mein durch mehr als ein Gesetz.
Sprich offen! und du weißt, ich halte Wort.
Jeder Satz ein Vers, und jeder Vers ein Satz – zumindest am Anfang. Bei „… durch // ein … schleicht sich dann kurz einmal etwas Bewegung in den sonst würdevollen, gemessenen Vortrag; doch das legt sich schnell wieder, und nach Iphigenies Antwort – „Vernimm! Ich bin aus Tantalus‘ Geschlecht.“ sagt Thoas dann einen dieser aus Stein gemeißelten Wucht-Sätze:
Du sprichst ein großes Wort gelassen aus.
Und mehr Satz-Vers-Übereinstimmung geht eigentlich nicht! (Ob Goethe wohl geahnt hat, dass er mit derlei Sprüchen Generationen von Zitatensammlungs-Herausgebern ernähren wird?!)
Na gut, noch mal knapp zusammengefasst: Ein fünf- oder sechshebiger Vers hat zwei äußerst wichtige Stellen – einmal den Einschnitt im Inneren des Verses, einmal das Versende. Wie sich diese beiden Stellen zum Satz verhalten, besonders zu dessen Ende: bestimmt die Wirkung des Textes in einem sehr hohen Maße. Darauf zu achten, lohnt beim eigenen Schreiben also ganz sicher, selbst wenn man, was ja wahrscheinlich ist, auf einem Mittelweg bleibt und die Dinge nicht so weit treibt wie Kleist und Goethe in den gezeigten Beispielen.