Erzählverse: Der Blankvers (4)

Wenn sich Ewald von Kleist, oder einer der anderen Väter des deutschen Blankverses sich in einer Zeitmaschine ins Heute begäbe, um zu sehen, wie sich der Blankvers denn heute so darstellt: wäre er vielleicht ein wenig enttäuscht, denn eigentlich sieht der immer noch genauso aus und hört sich auch noch genau so an wie vor 250 Jahren … Kleist könnte das zum Beispiel feststellen anhand von Thomas Rosenlöchers 1998 bei Suhrkamp erscheinenen Bändchen „Ich sitze in Sachsen und schau in den Schnee. 77 Gedichte“.

Da geht etwa auf Seite 25 das Gedicht „Der Organist“ los wie folgt:

Bei seinem Herrgott, den er einst mit Flöten,
achtfüßig links Posaunen im Pedal,
gerufen hat, die Erde zu vergessen,
geht er nun ein und aus, der Organist,
und steigt doch gern bei gutem Erdenwetter
ins Tal hinab zur großen Wolkenorgel.

Blankverse, von der Form her genauso regelmäßig wie die von Geibel, Rilke, Kleist oder Goethe?! Aber ich gebe zu, schon auf der gegenüberliegenden Seite 24 geht es am Anfang von „Dädalus“ nicht ganz so regelmäßig zu:

Am Feldrain stand ich und sah auf zur Sonne,
die brannte lichterloh. Der Acker dörrte.
Das Kornfeld strähnten klirrende Akkorde
und alt war diese Erde, alt,
wer kann das noch ermessen, dachte ich
und harrte aus. Denn in der Zeitung stand,
dass Dädalus vorüberflöge
hoch über diesen Ort.
Ein dunkler Punkt wuchs in der Ferne
allmählich an. Längs einer Ackerfurche
schleppte sich wer. Umging die Maulwurfshügel
und klapperte zum Gruß mit seinen Flügeln
dermaßen hölzern, dass die Lerchen
aufstoben, eine Wolke
vorm Mittagsstern, die sang, bis sie sich legte.

Das klingt doch schon wesentlich unruhiger; diese Unruhe kommt aber durch nichts zustande, was sich die Blankvers-Dichter nicht seit altersher erlaubt hätten!

Am auffälligsten sind sicher die sechs kürzeren Verse: ein einzelne Vierheber, eine Gruppe von zwei Versen, deren erster ein Vierheber ist, während der zweite nur drei Hebungen hat; und einmal ein Zurückfallen von fünf über vier auf drei Hebungen samt Rückkehr über vier Hebungen hin zu fünf – das meint die fünf Verse von „und harrte“ bis „Ackerfurche“.

Sechs verkürzte Verse, von insgesamt fünfzehn; das ist eine ganze Menge.  Trotzdem denke ich, dass dies ein Text in Blankversen ist, den deren Bewegung ist doch ziemlich deutlich die Bezugsgröße, an der sich alles ausrichtet?!

Eine andere schon immer genutzte Abweichung vom normalen Versbau ist der Austausch eines „x X x X“ gegen ein „X x x X“, fast immer am Versanfang oder beim Wiedereinsatz nach der Zäsur; wenn man so will, eine „versetzte Betonung“. Hier kommt sie in diesem Vers vor:

schleppte sich wer. Umging die Maulwurfsgel

X x x X || x X x X x X x

Eine Möglichkeit, dem Vers mehr Abwechslung zu geben, die nicht nur der Blankvers, sondern eigentlich jeder Vers hat, der, unbetont beginnend, betonte und unbetonte Silben wechseln lässt.

Also, alles schon dagewesen; und vielleicht wäre Kleist ja auch ganz zufrieden gewesen ob der heutigen Blankverse?!

Rosenlöchers Verse sind jedenfalls ein für mein Ohr recht gelungenes Beispiel fürs „moderne Erzählen in Versen“, und sie zeigen gut zwei Möglichkeiten auf, den Blankvers abwechslungsreicher zu gestalten: Einmal die Verkürzung einzelner Verse (eine Verlängerung ist natürlich genauso gut möglich!), und zum anderen die „versetzte Betonung“.

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