Erzählverse: Der Blankvers (5)

Dieser Beitrag ist mehr oder weniger eine Fortsetzung des letzten – es geht wieder um die Möglichkeiten, den Blankvers aufzulockern; und diese werden wieder an einem recht jetztzeitigen Beispiel verhandelt!

Eine Möglichkeit der Auflockerung, das meint: Die Freiheit, an einer Stelle, wo das Grundschema eine unbetonte Silbe vorsieht, auch einmal zwei zu setzen, also eine mehr; oder halt auch gar keine, also: eine weniger.

Das Beispiel stammt aus Michael Krügers „Idyllen und Illusionen. Tagebuchgedichte“, erschienen 1989 bei Wagenbach. Dort findet sich auf der neunten Seite:

Es geht um diesen Bach, um diese Schnecke,
um ihren Bettelgang von Stein zu Stein.
Es geht um Worte. Um die Fläche einer Hand,
die das Geheimnis hält. Um Märchen geht es,
um den Narr und seinen Becher voller Träume.
Es geht um Dinge, die wir glauben müssen,
die unsre Sterblichkeit bezeugen. Es geht um
Schönheit, Macht, Beschämung. Es geht um das,
was kein Gedächtnis hat: die Schnecke zweifelt
]nicht an ihrem langen Weg, der Bach
erneuert sich im Fließen: Trug wird Gesetz.

Die ersten beiden Verse sind tadellose Blankverse; danach wird es etwas unruhiger. Ich kennzeichne die entsprechenden Stellen mal in Rot:

Es geht um diesen Bach, um diese Schnecke,
um ihren Bettelgang von Stein zu Stein.
Es geht um Worte. Um die Fläche einer Hand,
die das Geheimnis hält. Um Märchen geht es,
um den Narr und seinen Becher voller Träume.
Es geht um Dinge, die wir glauben müssen,
die unsre Sterblichkeit bezeugen. Es geht um
! Schönheit, Macht, Beschämung. Es geht um das,
was kein Gedächtnis hat: die Schnecke zweifelt
! nicht an ihrem langen Weg, der Bach
erneuert sich im Fließen: Trug wird Gesetz.

Die beiden roten Rufzeichen am Anfang von V8 und V10 sollen auf die hier fehlende unbetonte Silbe am Versanfang hinweisen; beide Verse beginnen mit einer betonten Silbe. Die roten Silben im Versinneren zeigen an, wo zwei unbetonte Silben statt einer stehen!

Mir scheint, diese sechs Änderungen (gegenüber dem strengen Aufbau) schaden dem Text nicht, sondern fügen sich gut ein; geben ihm Abwechslung, ohne die „Grundtonart“ undeutlich werden zu lassen?!

Ein etwas schwierigerer Fall sind die drei orange gekennzeichneten Silben in V3. Hier muss man sich als Leser für eine der „Auflockerungs-Möglichkeiten“ entscheiden: Will man einen längeren Vers annehmen und den Vers mit sechs statt fünf betonten Silben lesen, was meint: „um“ betonen? Oder will man eine Erhöhung der Zahl unbetonter Silben nicht nur auf zwei, sondern sogar auf drei annehmen! Das wäre meine Wahl, denn einmal ist ein „um“ nicht wirklich wichtig genug, um es besonders herauszuheben; und zum anderen werden die drei unbetonten Silben mit Hilfe der durch den Punkt gekennzeichneten Sprechpause ja in zwei Gruppen getrennt, die für sich angenehm zu sprechen sind.

Insgesamt sind es also sieben Abweichungen auf elf Verse; für mein Ohr tut das dem Blankvers-Wesen des Textes keinen Abbruch. Natürlich, wenn man selbst anfängt, Blankverse zu schreiben, sollte man vielleicht erst einmal nur vorsichtig von solchen Möglichkeiten Gebrauch machen?! Aber allgemein spricht sicher nichts dagegen.

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