Nach den letzten Beiträgen, die alle von Möglichkeiten handelten, den Blankvers-Aufbau aufzulockern, soll in diesem Beitrag wieder ein Text zu lesen sein, der den Blankvers ohne große Abwandlung auch über viele Verse „durchhält“; selbstredend, ohne dabei langweilig oder einschläfernd zu wirken!
Ausgeschaut habe ich mir dafür Theodor Storms „Geh nicht hinein“. Storm hat einige Blankvers-Texte geschrieben, lange wie kurze; dieser hier liegt in etwa in der Mitte.
Die einzige Besonderheit, die bisher noch nicht zu beobachten war: Storm trennt an den Absatzgrenzen einen Vers auf, so dass die erste Hälfte des Verses noch zum alten Absatz gehört, die zweite aber schon zum neuen. Das kennt man vielleicht eher aus dem Drama, wenn dort ein Vers auf mehrere Sprecher verteilt wird; aber der „erzählende Blankvers“ ist ebensogut aufteilbar!
Im Flügel oben hinterm Korridor,
Wo es so jählings einsam worden ist,
– Nicht in dem ersten Zimmer, wo man sonst
Ihn finden mochte, in die blasse Hand
Das junge Haupt gestützt, die Augen träumend
Entlang den Wänden streifend, wo im Laub
Von Tropenpflanzen ausgebälgt Getier
Die Flügel spreizte und die Tatzen reckte,
Halb Wunder noch, halb Wissensrätsel ihm,
– Nicht dort; der Stuhl ist leer, die Pflanzen lassen
Verdürstend ihre schönen Blätter hängen;
Staub sinkt herab; – nein, nebenan die Tür,
In jenem hohen dämmrigen Gemach,
– Beklommne Schwüle ist drin eingeschlossen –
Dort hinterm Wandschirm auf dem Bette liegt
Etwas – geh nicht hinein! Es schaut dich fremd
Und furchtbar an!
Vor wenig Stunden noch
Auf jenen Kissen lag sein blondes Haupt;
Zwar bleich von Qualen, denn des Lebens Fäden
Zerrissen jäh; doch seine Augen sprachen
Noch zärtlich, und mitunter lächelt‘ er,
Als säh er noch in goldne Erdenferne.
Da plötzlich löscht es aus; er wusst es plötzlich,
– Und ein Entsetzen schrie aus seiner Brust,
Dass ratlos Mitleid, die am Lager saßen,
In Stein verwandelte – er lag am Abgrund;
Bodenlos, ganz ohne Boden. – „Hilf!
Ach Vater, lieber Vater!“ Taumelnd schlug
Er um sich mit den Armen; ziellos griffen
In leere Luft die Hände; noch ein Schrei –
Und dann veschwand er.
Dort, wo er gelegen,
Dort hinterm Wandschirm, stumm und einsam liegt
Jetzt etwas – bleib! Geh nicht hinein! Es schaut
Dich fremd und furchtbar an; für viele Tage
Kannst du nicht leben, wenn du es erblickt.
„Und weiter – du, der du ihn liebtest – hast
Nichts weiter du zu sagen?“
Weiter nichts.
Im Original fehlen bei den „gebrochenen Versen“ die Leerzeilen, dafür ist der zweite Halbvers „rechts raus gesetzt“; da ich das hier aber gerade nicht hinbekomme, habe ich auf die Leerzeilen zurückgegriffen.
Dadurch ergeben sich dann scheinbar betonte Versanfänge; dem ist aber nicht so, oder doch zumindest nicht an diesen Stellen; ein einziger Vers, „Bodenlos, …“ beginnt aber wirklich betont, also unter Auslassung der einleitenden unbetonten Silbe.
Anlass des Gedichts war der Tod des sechzehnjährigen Sohns des Grafen von Reventlow; das dieser Storm beeindruckt hat, lässt sich, denke ich, aus den Versen ganz gut heraushören, die ja auch ohne Aufweichung des alternierenden Metrums etwas Bewegtes, ja Schroffes haben?!
Wer ein wenig im Netz stöbert, wird vermutlich das eine oder andere erläuternde zu diesem Text finden – er ist ja schon recht bekannt. Und das nicht zu unrecht, denke ich; ich habe ihn jedenfalls schon immer gemocht!