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Ohne Titel

Im Gegensatz zu einem Frosch,
Der einfach lebt, gierst du, o Mensch!
Nach Sinn; und gierst nach einem Gott.

Du suchst verzweifelt einen Gott
Und findest keinen, bis ein Frosch
Dir Schicksal wird – der sonnt, o Mensch!

Am Graben sich, und weil, o Mensch!
Er satt ist, fehlt ihm nichts, kein Gott,
Er ist, nichts fehlt ihm, reiner Frosch;

So wird der Frosch, o Mensch! dir Gott.

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Erzählverse: Der iambische Trimeter (20)

Gleichsam als Gegenentwurf zu den gestrigen Reimpaaren Bürgers hier Rudolf Borchardts „Tiefe und Höhe II“ – ungereimte Langverse, ernst, schwer, ausdrucksstark:

 

Wo ist mein Sommer? Gib mir Antwort wenn du kannst,
Windharfe, Regenflöte! Trüber süßer Mund,
Gib mir nicht Antwort, wenn du nur solche Antwort weißt.
Mein Sommer liegt im groben Grase eingewühlt,
Ich weiß, die schweren Amseln hüpfen über ihm –
Er spürt es nicht; er drückt sich Mund und Augen zu,
Das stumme Schluchzen schüttert seinen schmalen Leib.

 

Im dritten Vers ist die Bewegungslinie gar nicht so einfach zu finden?! Mir scheint, es gibt mehrere Möglichkeiten … Einfach mal versuchen: Laut sprechen, nachhören! Vielleicht so, dann?!

Gib mir nicht Antwort, wenn du nur solche Antwort weißt.

Der Hebungsprall vorne ist inhaltlich begründbar; die doppelt unbesetzte Senkung hinten lässt sich nicht vermeiden, die Frage ist nur, wo spricht man sie …

Gib mir nicht Antwort, wenn du nur solche Antwort weißt.

Um die Zäsur herum fällt sie wie immer weniger auf! Vorne mit einer anderen Möglichkeit diesmal. Aber auch da gibt es noch andere. Wie gesagt: Versuchen!

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Erzählformen: Das Reimpaar (25)

Gedichte in Reimpaaren stehen, zu Recht oder zu Unrecht, in dem Ruf, eher einfach gestrickt zu sein. Gottfried August Bürger konnte, wenn er wollte, auch anders; meist wollte er aber nicht und gab seinen Gedichten bewusst einen volksnahen Ton. Die folgenden Strophen sind der Anfang von „Männerkeuschheit“ – was für ein Titel, auch!

 

Wer nie in schnöder Wollust Schoß
Die Fülle der Gesundheit goss,
Dem steht ein stolzes Wort wohl an,
Das Heldenwort: Ich bin ein Mann!

Denn er gedeiht und sprosst empor
Wie auf der Wies‘ ein schlankes Rohr;
Und lebt und webt, der Gottheit voll,
An Kraft und Schönheit ein Apoll.

 

Wie gesagt: Da kannte Bürger nichts. Und unter den 17(!) Strophen seines Gedichts sind einige, die es noch toller treiben:

 

Sein Auge funkelt dunkelhell
Wie ein kristallner Schattenquell.
Sein Antlitz strahlt wie Morgenrot;
Auf Nas‘ und Stirn herrscht Machtgebot.

 

An der Bedeutung des letzten Verses werde ich noch lange rätseln … Aber auf seine ganz eigene Art macht das Gedicht doch auch Freude; weil Bürger eben ein echter Dichter war und selbst solche wunderlichen Inhalte überzeugend darstellen konnte!

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Die Bewegungsschule (47)

In (10) habe ich vorgeschlagen, die Möglichkeiten von „Vollvers“ und „Schlussvers“ durch das Schreiben von Verspaaren auszuloten, die aus je einem dieser Verse bestehen. Es gibt dafür allerdings noch eine andere Möglichkeit – den „großen Bruder“ sozusagen, einen Langvers, zusammengesetzt aus einem Voll- und einem Schlussvers:

ta ta TAM / ta ta TAM | ta ta TAM / ta ta TAM || ta ta TAM / ta ta TAM / ta ta TAM / ta

Es gibt also eine feste Zäsur nach dem „Vollvers“, dessen ihm eigene Zäsur meist auch zumindest durch ein Wortende hörbar gemacht wird; und die ersten sechs „tata“ dürfen durch ein „TAM“ ersetzt werden, lediglich das siebte bleibt immer erhalten! Dafür kann aber das schließende „ta“ auch ein „TAM“ sein.

Schon 423 vor Christus hat Aristophanes diesen Vers in seinen „Wolken“ benutzt, und Johann Jacob Christian Donner hat ihn in seiner 1861 entstandenen Übersetzung nachgebildet:

 

Drum sangen sie wohl von des nassen Gewölks blitzleuchtendem grimmigen Sturmdrang,

 

Drum san– / gen sie wohl | von des nas– / sen Gewölks || blitzleuch– / tendem grim– /migen Sturm– / drang,

TAM TAM / ta ta TAM | ta ta TAM / ta ta TAM || TAM TAM / ta ta TAM / ta ta TAM / TAM

Wahrlich ein Langvers; und einer von starker, eindrücklicher Bewegung noch dazu! Lässt man alle „tata“ stehen und ersetzt keines von ihnen durch ein „TAM“, wird der Vers rasend schnell:

 

Und die rührende Kunst, die beschwatzende Kunst und den blendenden Zauber des Wortes.

 

Das, gar mehrere Verse nacheinander, ist schwer auszuhalten? Daher sehen die Verse in der Gruppe auch eher so aus:

 

Voll Andacht ziemt es zu schweigen dem Greis, und fromm dem Gebete zu lauschen.
Allherrschender Gott, unermessliche Luft, die den Erdball schwebend emporhält,
Und Äther im Glanz, und o Göttinnen hehr, ihr blitzhelldonnernden Wolken,
Steigt auf und dem sinnenden Forscher erscheint, ehrwürdige Frau’n, in den Lüften!

 

Wer mag, kann sich ja die entsprechenden Silbenbilder erarbeiten; insgesamt ist es ein sehr schöner Vers, den zu schreiben Spaß macht und der die Beschäftigung mit ihm allemal lohnt!

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Herbst-Sestine

Das Land der Griechen mit der Seele suchend –
Ich wage es, mir diesen Vers zu borgen,
Denn es ist Herbst und einer jener Tage,
An denen ich mir selber nicht vergebe:
Ich seh ins Buch und seh des vielgeliebten
Poeten Verse – und sie sind mir fremd.

Was ist geschehn? Ein solcher Vers, mir fremd?
Das Land der Griechen mit der Seele suchend …
Wie kommt es überhaupt, dass, was wir liebten,
Uns plötzlich fremd ist? Wirkte heut verborgen
Ein hoher Wille, dem ich mich ergebe
Im Wissen um die Trübsal dieser Tage?

Ich les der Verse viel an diesem Tage,
Doch immer bin ich, wie im ersten, fremd.
Ein hoher Wille, dem ich mich ergebe …
Das Land der Griechen mit der Seele suchend …

So will ich gehn und mir Verstehen borgen
Bei dem geschätzten Vers für die geliebten,

Denn ach! mich trennt das Meer von den Geliebten,
mit Herbstgrau voll und voller trüber Tage,
Und ihr geheimer Sinn bleibt mir verborgen –
Doch immer bin ich, wie im ersten, fremd.
Das Land der Griechen mit der Seele suchend.
Ein hoher Wille, dem ich mich ergebe.

Ein hoher Wille, dem ich mich ergebe;
Denn ach! mich trennt das Meer von den Geliebten,
Das Land der Griechen mit der Seele suchend …

Am Ende aber tritt der Sinn zu Tage!
Doch immer bin ich, wie im ersten, fremd.
So manches Jahr bewahrt mich hier verborgen –

So manches Jahr bewahrt mich hier verborgen
Ein hoher Wille, dem ich mich ergebe;
Doch immer bin ich, wie im ersten, fremd.
Denn ach! mich trennt das Meer von den Geliebten,
Und an dem Ufer steh ich lange Tage,
Das Land der Griechen mit der Seele suchend.

Verborgen bleibt der Liebe Sinn Verliebten;
Ich gebe mich geschlagen und vertage
Die Sache, fremd der Welt und weitersuchend …

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Neues vom Anapäst

Im „Hinterzimmer“ des Verserzählers tut sich immer mal wieder etwas; in letzter Zeit sind einige kleinere Texte hinzugekommen unter Anapästische Verse, als allerletztes eine kurze Wesensbestimmung des Anapästs von Carl Seidel, gefunden in seinem „Charinomos“ (zweiter Band, 1828). Der kann man zustimmen oder auch nicht (mir scheint sie zwar im wesentlichen richtig, aber zu einschränkend), ein hilfreicher Fingerzeig ist sie allemal!

Als einen der Beispieltexte führt Seidel, wie fast alle anderen Metriker auch, Schillers „Taucher“ an. Der schließt so:

 

Wohl hört man die Brandung, wohl kehrt sie zurück,
Sie verkündet der donnernde Schall;
Da bückt’s sich hinunter mit liebendem Blick;
Es kommen, es kommen die Wasser all;
Sie rauschen herauf, sie rauschen nieder,
Den Jüngling bringt keines wieder.

 

Seidel merkt an:

Diese letzte Stanze ist wegen des hinsinkenden Rhythmus‘ der gegen das Ende hin wie ein Echo nach und nach verhallenden Anapäste, wegen der sanft ausklingenden weiblichen Reime und wegen des allmählichen Eintretens milderer Vokale und Konsonanten ein nachahmenswertes Meisterstück des Versbaus von charakteristischer Schönheit.

Und da, scheint mir, liegt er nun völlig richtig!

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Erzählverse: Der Hexameter (125)

Man kann den Hexameter nicht nur mit dem Pentameter wechseln lassen, wie im Distichon, sondern auch mit vielen anderen Versen. Jens Baggesen hat in seinem „An die Furien“ diesen kürzeren Vers gewählt:

X x x / X x x / X

Ein kurzer Auschnitt, ziemlich vom Anfang:

 

Greuel, wie nie noch ersannen Caligule, stinkende Greuel,
Denen verglichen der Rauch,
Welcher vom grausen Gelage der Anthropophagen gen Himmel
Wirbelt, Ambrosia dampft,
Rufen euch, Schwestern der Rache: Was schnarchet ihr? Reget die Flügel!
Schüttelt die Schlangen! Erwacht!

 

Das ist einmal ein schönes Beispiel für das Zusammenspiel dieser beiden Verse; es ist aber auch (heute!) ein erheiterndes Stück Dichtung durch die Überdrehtheit, die viele von Baggesens Gedichten kennzeichnet. „Was schnarchet ihr?“ – Ich mag’s, aber eigentlich kann man Baggesen heute nicht mehr lesen. Seine „Parthenais“ ist da keine Ausnahme, aber einzelne Stellen haben wirklich Kraft und Schönheit – auf sie komme ich noch zurück!