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Erzählformen: Das Madrigal (21)

Madrigale sind nach Herkunft und Anlage leichte, luftige Gebilde, in denen der Wohlklang sich zu Hause fühlt und die scherzende Muse geistreiche Plaudereien darbietet. Im Allgemeinen! Friedrich Schiller dagegen verschafft auch hier, wie eigentlich überall, eher dem Gedanklichen Raum:

 

„Wie tief liegt unter mir die Welt,
Kaum seh ich noch die Menschlein unten wallen!
Wie trägt mich meine Kunst, die Höchste unter allen,
So nahe an des Himmels Zelt!“
So ruft von seines Turmes Dache
Der Schieferdecker, so der kleine große Mann
Hans Metaphysikus in seinem Schreibgemache.
Sag an, du kleiner großer Mann,
Der Turm, von dem dein Blick so vornehm niederschauet,
Wovon ist er – worauf ist er erbauet?
Wie kamst du selbst hinauf, – und seine kahlen Höhn,
Wozu sind sie dir nütz, als in das Tal zu sehn?

 

– Aber immerhin, eine gewisse Schärfe ist vorhanden … Wieder findet sich die so häufige Mischung von vier- bis sechshebigen Versen, wobei die sechshebigen bemerkenswerterweise immer Alexandriner sind:

Der Turm, / von dem / dein Blick || so vor– / nehm nie– / derschau– / et,

Einmal treten Satz- und Verseinschnitt auseinander –

Der Schie– / ferdec– / ker, so || der klei– / ne gro– / ße Mann

– aber das lässt sich durch den gesamtem inhaltlichen Zusammenhang auch gut so vortragen?!

Eigentlich war Schiller ja kein Freund des Alexandriners; aber das heißt selbstredend nicht, dass er keine schreiben konnte. Wenn er wollte.

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Ohne Titel

Opa nickt ein stilles Nicken.
Säh‘ es wer, für eine Antwort
Hielt er es, auf welche Frage –
Niemand weiß es. Niemand sieht es.
Opa sitzt am offnen Fenster,
Sommerwärme, Sommerstille
Fragen; und er nickt zur Antwort.

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Erzählverse: Der trochäische Fünfheber (9)

Otto Ernst dürfte heutzutage den meisten, wenn überhaupt, als der Verfasser von „Nis Randers“ bekannt sein – Krachen und Heulen und berstende Nacht … Aber er hat selbstredend eine Menge mehr geschrieben, und vieles nichterzählendes. „Mein Freund“ etwa:

 

Als ich jüngst im Garten wandelte,
Ward mir unverhoffte, tiefe Freude:
Aus dem tiefen Dunkel wirrer Zweige
Winkten mir zwei Blumen wie zwei Augen.
Näher trat ich, durchs Gebüsch mich zwängend –
Sieh, im düst’ren Schatten alter Bäume,
Fast erdrückt vom wuchernden Holunder,
Stand ein armer Strauch der Alpenrose.
Zwischen seinen krummen, mag’ren Ästen
Spann ihr feucht Gespinst die ewige Nacht;
Abgetrennt von Luft und Sommersonne
War er leidend Jahr um Jahr gewachsen;
Doch aus Leidensnächten hob er Blüten,
Starke, lächelnde, betränte Blüten,
Seines Ringens Ende, still empor.

Und dem Gärtner rief ich: „Diesem Strauche
Gib den besten Platz in meinem Garten.
Tu es bald – ich hab es ihm versprochen.“

 

Der trochäische Fünfheber ist nicht überall durchgehalten – drei Verse enden „männlich“, also mit einer betonten Silbe; gleich der erste zum Beispiel, wo die Betonung dann auch noch auf das „-te“ rutscht?!  In der Mitte stehen vor der betonten Schluss-Silbe „Nacht“ zwei unbetonte Silben, „-wige“, wodurch es fast wirkt, als sei die unbetonte letzte Silbe des Fünfhebers in den Vers gewandert …

Aber auch das Ende des Gedichtes ist bedenkenswert. Als Ernst „Mein Freund“ zum ersten Mal veröffentlichte, schlossen sich an die obigen Verse noch diese vier an:

 

Alle Wohner meines Gartens lieb ich,
Halm und Bäume, Frucht- und Schattensträucher;
Doch mit diesem in des Abends Schweigen
Sprech’ ich Worte wie von Mensch zu Mensch.

 

In seinen später erschienenen „Gesammelten Werken“ hat Ernst diese vier Verse dann ersatzlos gestrichen. Was, wie mir scheint: eine kluge Entscheidung war. (Der frühere Text hat auch „den Gärtner“ statt „dem Gärtner“; ob die Änderung Absicht ist oder ein Fehler  – wer weiß es …)

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Die Bewegungsschule (39)

Manchmal liest man an Stellen, an denen man es nicht vermutet, einen unscheinbaren  kurzen Satz, stutzt, denkt sich „Na sieh mal an“ – und ertappt sich wenig später dabei, dem beschriebenen Sachverhalt nachzugehen, statt vernünftige Dinge zu tun (sagen wir: die Treppe wischen).

In meinem Fall war es ein Satz aus der Einleitung der Gedichtsammlung „Deutschlands Dichter von 1813 bis 1843“. Da schreibt Karl Gödeke über den Pentameter:

„Auch haben die Griechen häufig, die Römer regelmäßig und die besseren deutschen Dichter mit Sorgfalt die zweite Hälfte mit einer Zäsur nach der fünften Silbe ausgestattet, so dass der Ausgang jambisch wird“.

Ach. Soll heißen, im Silbenbild dargestellt:

TAM ta (ta) TAM ta (ta) TAM || TAM ta ta TAM ta | ta TAM

Wobei „|“ die von Gödeke angesprochene Zäsur ist. Ich habe nun wirklich schon viele – deutsche! – Distichen, und damit Pentamter gelesen und geschrieben; aber das war mir noch nicht aufgefallen!

Denkt man über die zweite Pentameterhälfte nach, die ja eine feste Silbenverteilung hat, wird schnell klar, dass sie auf insgesamt sechzehn verschiedene Arten mit Sinneinheiten, oder, wie man auch sagt: Wortfüßen gefüllt werden kann: Neun davon enthalten drei Wortfüße (auf jede der drei betonten Silbe entfällt einer, weswegen auch mehr als drei Wortfüße nicht möglich sind), sechs enthalten zwei Wortfüße (ein Wortfuß enthält zwei betonte Silben, ein Wortfuß eine betonte Silbe), und einmal erstreckt sich der Wortfuß über den ganzen Halbvers und enthält alle drei betonten Silben. Im Silbenbild sieht das so aus:

01 TAM / ta ta TAM ta ta / TAM
02 TAM / ta ta TAM ta / ta TAM
03 TAM / ta ta TAM / ta ta TAM
04 TAM ta / ta TAM ta ta / TAM
05 TAM ta / ta TAM ta / ta TAM
06 TAM ta / ta TAM / ta ta TAM
07 TAM ta ta / TAM ta ta / TAM
08 TAM ta ta / TAM ta / ta TAM
09 TAM ta ta / TAM / ta ta TAM

10 TAM / ta ta TAM ta ta TAM
11 TAM ta / ta TAM ta ta TAM
12 TAM ta ta / TAM ta ta TAM
13 TAM ta ta TAM / ta ta TAM
14 TAM ta ta TAM ta / ta TAM
15 TAM ta ta TAM ta ta / TAM

16 TAM ta ta TAM ta ta TAM

Man sieht: das bei der von Gödeke erwähnten Zäsur enstehende „ta TAM“ findet sich bei vier der sechzehn Möglichkeiten.  Jetzt könnte man einen in Distichen geschriebenen Text nehmen und einfach nachzählen: Kommen diese vier Möglichkeiten in ungefähr einem Viertel der Verse vor, hat Gödeke Unrecht; kommen sie in wesentlich mehr Versen vor, hat er Recht!

Aber so einfach ist es dann doch nicht, denn die verschiedenen Möglichkeiten sind nicht gleichwertig, was an den Möglichkeiten liegt, die der Wortschatz des Deutschen bietet; und sein Satzbau. Wer selbst Hexameter und Distichen schreibt, weiß, wie häufig sich Wortfüße der Form „ta TAM ta“ in die Verse drängen, die ungeliebten Amphibrachen, gegen deren zu häufiges Vorkommen jeder Hexametrist einen dauernden (und nicht immer erfolgreichen!) Kampf führt …

Diese Amphibrachen entstehen, wenn vor die im Deutschen sehr häufigen zweisilbigen Worte der Form „TAM ta“ ein Bauwort tritt, meist ein Artikel oder eine Präposition. Schaut man sich nun die Liste der sechzehn Möglichkeiten an, sieht man: es gibt nur eine einzige Wortfußanordnung, in der ein Amphibrach vorkommt! Diese: „TAM ta / ta TAM ta / ta TAM

Und wenn man bedenkt, das auch der erste Wortfuß eines der häufigen Wörter der Form „TAM ta“ aufnehmen kann, ist der Verdacht nicht fern, dass diese Wortfußverteilung sehr häufig vertreten sein wird! Aber eigentlich nicht darum, weil der Dichter „sorgsam“ war, wie Gödeke sagt; sondern eher, weil er sorglos war und den Vorgaben des Deutschen bequem gefolgt ist …

Also, bei wem könnte man nachschauen?! Friedrich Schiller bietet sich an mit seinem Spaziergang; einmal, weil Schiller den eigentlichen, tiefen Einschnitt genau in der Mitte des Pentamters meist stark betont und so die zweite Vershälfte zuverlässig von der ersten trennt; und auch, weil der Spaziergang genau 200 Verse hat, mithin 100 Pentameter – was die Angabe von Prozentwerten erfreulich einfach macht …

Das Ergebnis bestätigt, was vermutet wurde:

29 x TAM ta / ta TAM ta / ta TAM
21 x TAM ta / ta TAM ta ta TAM
13 x TAM / ta ta TAM ta / ta TAM
11 x TAM ta ta TAM ta / ta TAM
7 x TAM ta / ta TAM ta ta / TAM
6 x TAM / ta ta TAM ta ta TAM
5 x TAM ta ta / TAM ta / ta TAM
2 x TAM ta ta TAM ta ta / TAM
2 x TAM / ta ta TAM / ta ta TAM
1 x TAM ta / ta TAM / ta ta TAM
1 x TAM ta ta / TAM / ta ta TAM
1 x TAM ta ta / TAM ta ta TAM
1 x TAM ta ta TAM / ta ta TAM
0 x TAM / ta ta TAM ta ta / TAM
0 x TAM ta ta / TAM ta ta / TAM
0 x TAM ta ta TAM ta ta TAM

Die Wortfußverteilung, die den Amphibrach enthält, ist die deutlich häufigste – auf sie allein entfallen mehr Verse als auf alle Möglichkeiten, die auf den Plätzen 5 – 16 folgen!

Bei der zweithäufigsten Möglichkeit – „TAM ta / ta TAM ta ta TAM“ – lohnt ein näherer Blick. Sie besteht aus zwei Wortfüßen, und der längere könnte durchaus auch einen Amphibrach enthalten, zum Beispiel ein Artikel + Adjektiv, die zusammen mit einem auf sie folgenden Substantiv der Form „ta TAM“ eine Sinneinheit bilden. Tatsächlich finden sich solche Halbverse bei Schiller:

fröhlich / das enge Gesetz

Die meisten Halbverse dieser Art sind aber anders gefüllt, sie enthalten als zweiten Wortfuß Artikel / Präposition + dreisilbiges Adjektiv, gefolgt von einem einsilbigen, betonten Substantiv:

wirbelt /  in heiterer Luft

rühmet / das prangende Tal

glühend, / ein einziges Herz

– Und noch viele andere …

Einige der sechzehn Möglichkeiten kommen gar nicht vor. Zumindest bei dem Halbvers, der aus einem einzigen Wortfuß besteht, wundert das nicht: sieben Silben sind viel, meist nimmt das Ohr sie nicht mehr als eine Sinneinheit wahr, sondern „zerlegt“ sie in zwei. In Schillers „Genius“ findet sich so ein Halbvers:

in der entadelten Brust

– Ein siebensilbiger Präpositionalausdruck, der ein wenig schummelt, indem er die eigentlich zu schwache Präposition „in“ auf die Hebungsstelle setzt …

Aber zurück zu Gödekes anfangs genannter Aussage! Ich weiß nicht, ob er Schiller als „besseren Dichter“ angesehen hat; ein Dichter, dessen Formverständnis wahrzunehmen sich lohnt, war er allemal. Und es sieht im Spaziergang so aus, dass 58% der Pentamter  zumindest eine Wortfußgrenze vor der vorletzten Silbe haben, also „jambisch ausgehen“; 42% haben eine andere Gliederung.

Ob Schiller das bewusst so gemacht hat, bezweifle ich aus oben genannten Gründen; aber aufschlussreich sind solche Überprüfungen trotzdem, und noch aufschlussreicher, vergleicht man diese Werte mit denen, die sich in den Texten anderer Verfasser zeigen. Ich werde noch einige dahingehend auswerten und die Ergebnisse dann mit denen bei Schiller gefundenen vergleichen …

Bis das erledigt ist, verweise ich noch auf den letzten von mir verfassten Pentameter (er steht im Distichon „Sommerfest„):

„Herrlich!“, er reicht mir, „Famos!“ lächelnd den Teller; und geht.

– Da weisen sogar beide Halbverse die Form „TAM ta / ta TAM ta / ta TAM“ auf; und sie haben beide einen –  starken! – Einschnitt nach der fünften Silbe! Ich bin also im Guten ein folgsamer Schüler der „besseren Dichter“; oder im Schlechten einer, der es sich leicht macht und zweimal auf die naheliegendste Lösung zurückgreift …

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Ohne Titel

Erst sitzt der Frosch auf einem Stein, dann tut er einen Sprung,
Hinunter springt er, springt: hinauf! Er springt und weiß sich jung.

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Erzählformen: Das Madrigal (20)

Christian Adolph Overbeck war vieles: Bürgermeister in Lübeck, Diplomat in Paris und Sankt Petersburg, Komponist; und auch ein Mann von einiger Sprachbegabung, was sich in vielen Übersetzungen niederschlug. Dass er auch Verse gemacht hat, wundert da nicht mehr … Seine Gedichte sind eine bunte Mischung, leichte Stücke, Kinderlieder, aber auch Werke wie „Auf das Bildnis einer Dulderin“:

 

Das ist ihr Blick, ihr freundlichfrommer Zug;
Das ist sie selbst, ihr atmend Leben;
Das hast du, Maler, hier gemalt,
Hast uns Natur in stiller Kunst gegeben;
Für deine Kunst und dich, genug.
Doch den verschleierten, ins sanfte Herz
Zurückgewichnen Zug, der nur in Leiden
Hervor, gleich dem Gestirn in Mitternächten, strahlt;
Die Gottgelassenheit in langem Schmerz,
Die harrende Geduld, an der sich Engel weiden;
Den Heldenzug, den nur ein Engel malt,
Den hast du, Maler, nicht gemalt.

 

Ein, dem Inhalt angemessen, ruhiger Text, nicht zuletzt durch den Wechsel von doch recht langen Versen; es sind Vier-, Fünf- und Sechsheber vertreten! Es gibt keine der im Madrigal üblichen Waisen, aber die einander zugehörigen Reimwörter stehen oft sehr weit auseinander, ehe am Schluss dann das doppelte „malt“ für einen kräftigen Abschluss sorgt.

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Bücher zum Vers (77)

Harald Patzer: Die Formgesetze des homerischen Epos

In diesem 1996 bei Steiner erschienenen Band findet auch der des Altgriechischen unkundige manches Nachdenkenswerte. Zum einen, wie vom Titel angesprochen, über den Aufbau der homerischen Epen – und eine Beschäftigung mit der Ilias und der Odyssee ist für einen Verserzähler nie vertane Zeit. Auch Patzers Ausführungen zum griechischen Hexameter sind für das Verständnis des deutschen Hexameters durchaus nützlich; und schließlich gibt es auch noch allgemeine Aussagen zum Wesen der Dichtung, denen man nicht zustimmen muss, die zu bedenken aber in jedem Fall lohnt. So zum Beispiel auf Seite 24, wo es ganz grundlegend um das Wesen und das Entstehen metrisch gebundener Dichtung geht:

„Es war danach kein weiter Weg mehr, längeren ausführlichen Verlautbarungen, mit denen sich einzelne an die Gesamtheit ihrer Sprachgenossen wandten,  eine rhythmische Sprachgestalt zu geben, um sie für diese bedeutungsvoll und einprägungswürdig (das heißt als ‚Dichtungen‘) erscheinen zu lassen. Dazu musste die Rhythmik, die sich zunächst zerstreut in Formeln der Alltagssprache angelegt hatte, konsequent auf den gesamten Aussagebereich der Dichtung ausgedehnt werden. Das aber bedeutete eine Stilisierung der gewöhnlichen Sprache, also deren Vereinseitigung, aber auch Verwesentlichung auf den in ihr schlummernden Rhythmus hin. Damit wuchs der Dichtungssprache eine Ausdrucksfähigkeit zu, die über die der Alltagssprache hinausging. Sie ließ sinnlich wahrnehmbar einen sympathetischen Einklang mit dem die gesamte Natur durchwaltenden Rhythmus erscheinen, in dem Dauer im Wechsel erlebt wurde. Sie erhob damit den Hörer in eine Sphäre, in der die von der Dichtung dargestellte menschliche Wirklichkeit auf ihr Wesen hin durchscheinend wurde. Der Rhythmus machte die dichterische Rede zur Wahrrede.“

So mag es gewesen sein, vor etwa 3000 Jahren … Ob uns das heute noch zu kümmern hat, ist eine gute Frage.

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Erzählformen: Das Reimpaar (21)

Christian Morgenstern verstand es meisterhaft, aus ganz wenigen Reimpaaren ein wirkungsvolles, rundes Ganzes zu erschaffen. Ein berühmtes Beispiel ist „Die beiden Esel“:

 

Ein finstrer Esel sprach einmal
zu seinem ehlichen Gemahl:

„Ich bin so dumm, du bist so dumm,
wir wollen sterben gehen, kumm!“

Doch wie es kommt so öfter eben:
Die beiden blieben fröhlich leben.

 

Das sieht aus und klingt, als könne es jeder hinbekommen; aber wer es dann wirklich versucht, stellt fest: dem ist nicht so …