Dunkel geworden
Alles, was da ist,
Nur wo Laternen
Licht sind: da nicht.
Bücher zum Vers (68)
Peter Dronke: Die Lyrik des Mittelalters. Eine Einführung.
Nichts fällt vom Himmel, die Dichtung nicht und die Gedichte auch nicht; sie haben eine Geschichte. Sich mit der zu beschäftigen lohnt sich, und das knapp 300 Seiten starke Werk von Dronke ist ein guter Weg, sich mit ihrem mittelalterlichen Teil bekannt zu machen. Dabei bleibt Dronke immer dem einzelnen Beispiel verpflichtet, ohne jedoch das große Ganze, für das er sich in ganz Europa umschaut, aus den Augen zu verlieren; und hat darüber hinaus noch Zeit für die eine oder andere Kleinigkeit, die nicht unbedingt sein müsste … Seite 17:
Einmal zu Weihnachten, um 1066 herum, versuchten Erzbischof Adalbert von Hamburg und sein Klerus, die ausgelassenen Trinklieder, die der Sachsenherzog Magnus und seine Gesellschaft „in ihre Becher grölten“ (in poculis ulularent), zu übertönen, indem sie antiphonisch dagegenan psalmodierten. Leider konnten der Herzog und seine Leute durchaus ihre Stellung halten, und Adalbert „schloss sich in seinen Andachtsraum ein und weinte bitterlich“.
Der Arme.
Das alles zusammen ergibt jedenfalls eine Menge an nachdenkenswertem und hilfreichem Stoff. Auf Seite 118 stellt Dronke zum Beispiel des Kürenbergers „Ich zoch mir einen valken …“ vor, das jeder kennt, der schon mal mittelalterliche Texte gelesen hat. Deutlich unbekannter dürfte ein serbisches Volkslied sein, das gleich darauf zu Vergleichszwecken herangezogen wird (S. 119):
Der Falke sitzt auf der Stadt Saloniki,
gelb sind seine Füße bis zum Gelenk,
golden seine Flügel bis zur Schulter,
blutig sein Schnabel bis zu den Augen.
Ihn fragen die Mädchen von Saloniki:
„O so Gott dir, grau-grüner Falke,
wer hat die die Füße gelb gemacht?
Wer hat dir die Flügel vergoldet?
Wer hat dir den Schnabel blutig gemacht?“ –
„Lasst mich gehen, ihr Mädchen von Saloniki!
Gedient habe ich einem guten Herren.
Er hatte drei Töchter:
eine hat mir die Füße gelb gemacht,
die zweite hat mir die Flügel vergoldet,
aber die dritte hat mir den Schnabel blutig gemacht.“
Aber auch das: ein bedenkenswerter Text.
Erschienen ist der Band 1973 bei Beck!
Erzählverse: Der trochäische Fünfheber (5)
In Emanuel Geibels nicht allzu langer Verserzählung „Die weiße Schlage“ erlangt Stojan durch den Verzehr ebendieser Schlange die Gabe, die Sprach der Tiere zu verstehen (und, wie sich später zeigt, auch die des Feuers). Er stellt aber schnell fest, dass die Tiere über ihm nicht genehme Dinge reden – zwei alte Raben machen den Anfang:
Spricht der erste Rabe da zum zweiten:
Bruder, sprich, woher hast du den Goldreif,
Den ich gestern sah in deinem Schnabel,
Fein und blank, mit sieben roten Steinen?
Wo nur hast du den gefunden? Sag mir’s!
Ihm erwidert drauf der andre Vogel:
Märlein will ich dir erzählen, Bruder,
Von dem Goldreif wunderliche Märlein.
Sind nun siebenundzwanzig Jahr und länger,
Dass ein Mägdlein hier im Walde wohnte,
Weiß und rot, mit langen schwarzen Zöpfen.
Trug sie nur ein Hemd von grobem Linnen,
Nur Sandalen an den weißen Füßen,
Trug sie doch ein Antlitz wie die Blumen.
Heller schien die Sonne, wenn sie lachte,
Wenn sie sang, so stand das Bächlein stille,
Grüner ward der Rasen, drauf sie tanzte.
Sieh, da kam des Wegs ein Herr geritten,
Reiherfedern an der Zobelmütze,
Gold sein Zaum, sein Säbel mit Smaragden.
Einmal kam er erst, dann kam er vielmals,
Sprach ihr zu und schwur ihr hundert Schwüre,
Steckt‘ ihr an den Finger einen Goldreif
Fein und blank, mit sieben roten Steinen,
Dass sie seinen Schwüren glauben möchte;
Und sie glaubt‘ und ließ von ihm sich küssen.
Lieblich däucht‘ es ihr den langen Sommer.
Aber als im Herbst die Vögel zogen,
Fernhinzogen und nicht wiederkamen,
Kam auch er nicht wieder gleich den Vögeln;
Wo er blieb, das mag die Sonne wissen.
Doch jedweden Abend kam das Mägdlein,
Saß am See und weinte heiße Tränen,
Weint‘ hernieder auf den Schnee im Winter,
Und im Frühjahr auf die blauen Veilchen.
Aber in der Nacht der Frühlingsgleiche
Schrie sie laut empor vor großer Trübsal,
Sprang hinunter dann ins schwarze Wasser.
Keiner hat sie wieder je gesehen;
Nur den Goldreif warf der See ans Ufer.
– Auch die weiteren Einzelheiten der Geschichte werden so erzählt, bis sich Taten und Untaten offenbart haben und am Schluss – wie es sich gehört, ist man versucht zu sagen – alle tot sind. Wer mag, kann das nachlesen; um Geibels Vers einzuschätzen, reicht schon der knappe Ausschnitt hier.
Wie immer bei Geibel: Sichere Verse, nichts besonderes, aber allemal in der Lage, die Erzählung zu tragen?! Ich glaube, das lässt sich auch heute noch gut lesen … Schriebe man es heute, müsste man es sicher hier und da auf den heutigen Stand bringen; aber auch dann trüge der Vers, da bin ich sicher!
Das Königreich von Sede (64)
Da ist ein Räderwerk in jedem Frosch,
Sind Räder ohne Zahl und vielbezahnt;
Die drehen sich und greifen ineinander,
Mal hier, mal da, unfassbar schnell, und machen,
Dass sich der Frosch bewegt.
Wintermorgen
Auf in die dämmernde Welt will die Sonne sich heben; doch heute
Kommt sie zu spät, denn empor glänzet der Schrei eines Hahns.
Um Zwei, Gottlob, und um die Drei / Glänzet empor ein Hahnenschrei,
– Mörike, Der alte Turmhahn. Knittelvers-Distichon-Transformation – warum nicht …
Erzählformen: Das Distichon (13)
In (12) war vom „Auftauchen unter den Göttlichen“ die Rede; so auch hier. In Johann Wolfgang Goethes siebter römischer Elegie verschlägt es den Dichter selbst unter die Unsterblichen:
O wie fühl ich in Rom mich so froh, gedenk ich der Zeiten,
Da mich ein graulicher Tag hinten im Norden umfing,
Trübe der Himmel und schwer auf meine Scheitel sich senkte,
Farb- und gestaltlos die Welt um den Ermatteten lag,
Und ich über mein Ich, des unbefriedigten Geistes
Düstre Wege zu spähn, still in Betrachtung versank.
Nun umleuchtet der Glanz des helleren Äthers die Stirne.
Phöbus rufet, der Gott, Formen und Farben hervor.
Sternhell glänzet die Nacht, sie klingt von weichen Gesängen,
Und mir leuchtet der Mond heller als nordischer Tag.
Welche Seligkeit ward mir Sterblichem! Träum ich? Empfänget
Dein ambrosisches Haus, Jupiter Vater, den Gast?
Ach, hier lieg ich und strecke nach deinen Knieen die Hände
Flehend aus. O vernimm, Jupiter Xenius, mich!
Wie ich hereingekommen, ich kanns nicht sagen: es fasste
Hebe den Wandrer und zog mich in die Hallen heran.
Hast du ihr einen Heroen herauf zu führen geboten?
Irrte die Schöne? Vergib! Lass mir des Irrtums Gewinn!
Deine Tochter Fortuna, sie auch! die herrlichsten Gaben
Teilt als ein Mädchen sie aus, wie es die Laune gebeut.
Bist du der wirtliche Gott? O dann so verstoße den Gastfreund
Nicht von deinem Olymp wieder zur Erde hinab!
„Dichter! Wohin versteigest du dich?“ – Vergib mir: der hohe
Kapitolinische Berg ist dir ein zweiter Olymp.
Dulde mich, Jupiter, hier, und Hermes führe mich später
Cestius Mal vorbei, leise zum Orkus hinab.
– Da stecken nun sicher eine Menge an antiken Anspielungen drin und auch an solchen, die „Goethes Rom“ betreffen („Cestius Mal“, die Pyramide des Cesius, in deren Nähe der protestantische Friedhof Roms lag). Aber die muss man eigentlich gar nicht kennen; spannend ist vor allem zu sehen, wie Gothe den Inhalt durch die Verspaare führt. Mal einen Satz auf mehrere Distichen verteilt, mal zwei Sätze in einem Distichon, mal einen Satz, einen Gedanken genau in ein Verspaar gegossen. Auch die Zeilensprünge lassen aufhorchen! Und wie immer eigentlich bei Goethe: Nie schließt ein Gedanke im Hexameter, und im Pentamter beginnt ein neuer; sondern die Einheit des Distichons bleibt immer gewahrt.
Alles zusammen sorgt dann für ein sehr abwechslungreiches, doch nie ungeordnet wirkendes Spiel mit Form und Inhalt, das den Leser bis zum letzten Vers „an der Leine behält!“
Erzählverse: Der trochäische Vierheber (38)
Johann Wolfgang Goethes „Mahomets-Gesang“ ist ein Text, der die Beschäftigung sowohl inhaltlich als auch in Bezug auf die Entstehung lohnt; hier soll es aber vor allem um seinen Aufbau gehen. Meint: Um die Art, wie am Anfang noch sehr kurze Verse stehen, ab und auch ein Reim, die Anzahl der ungereimten vierhebigen Trochäen aber nach und nach größer wird. In der Mitte stehen dann schon viele davon, oft durch einen Zeilenumbruch (noch einmal) für’s Auge in zwei kürzere Verse getrennt (So dreimal bei „Gier’ger Sand … Bruder!“); bis schließlich am Schluss alle Verse vierhebige Trochäen sind, weiblichen Schlusses, solange der Gedanke noch andauert, männlichen Schlusses, sobald der Gedanke zum Ende kommt.
In ihrer Verbindung mit dem Inhalt sicherlich ganz große Verskunst!
Seht den Felsenquell
Freudehell
Wie ein Sternenblick!
Über Wolken
Nährten seine Jugend
Gute Geister
Zwischen Klippen im Gebüsch.
Jünglingfrisch
Tanzt er aus der Wolke
Auf die Marmorfelsen nieder
Jauchzet wieder
Nach dem Himmel
Durch die Gipfelgänge
Jagt er bunten Kieseln nach,
Und mit frühem Führertritt
Reißt er seine Bruderquellen
Mit sich fort.
Drunten werden in dem Tal
Unter seinem Fußtritt Blumen
Und die Wiese
Lebt von seinem Hauch.
Doch ihn hält kein Schattental
Keine Blumen
Die ihm seine Knie umschlingen
Ihm mit Liebesaugen schmeicheln
Nach der Ebne dringt sein Lauf
Schlangewandelnd.
Bäche schmiegen
Sich gesellig an
Nun tritt er
In die Ebne silberprangend
Und die Ebne prangt mit ihm
Und die Flüsse von der Ebne
Und die Bäche von Gebürgen
Jauchzen ihm und rufen: Bruder!
Bruder nimm die Brüder mit!
Mit zu deinem alten Vater
Zu dem ewgen Ozean
Der mit weitverbreiteten Armen
Unsrer wartet
Die sich ach vergebens öffnen
Seine Sehnenden zu fassen
Denn uns frisst in öder Wüste
Gier´ger Sand
Die Sonne droben
Saugt an unserm Blut
Ein Hügel
Hemmet uns zum Teiche!
Bruder!
Nimm die Brüder von der Ebne
Nimm die Brüder von Gebürgen
Mit zu deinem Vater mit.
Kommt ihr alle! –
Und nun schwillt er
Herrlicher, ein ganz Geschlechte
Trägt den Fürsten hoch empor
Und im rollenden Triumphe
Gibt er Ländern Namen, Städte
Werden unter seinem Fuß.
Unaufhaltsam rauscht er über
Lässt der Türme Flammengipfel
Marmorhäuser eine Schöpfung
Seiner Fülle hinter sich.
Zedernhäuser trägt der Atlas
Auf den Riesenschultern, sausend
Wehen über seinem Haupte
Tausend Segel auf zum Himmel
Seine Macht und Herrlichkeit.
Und so trägt er seine Brüder
Seine Schätze, seine Kinder
Dem erwartenden Erzeuger
Freudebrausend an das Herz.
Herr Paul und das Schweigen
Herr Paul erwacht und spürt den Wunsch, zu schweigen.
Er tuts und spricht den ganzen Tag kein Wort
Und fährt am nächsten Tag gelassen fort,
Sich stumm und wortlos aller Welt zu zeigen.
Er macht die Stille völlig sich zu eigen,
Erschafft in sich dem Frieden einen Hort
Und schenkt der Ruhe einen sichren Ort.
Dem strömt sie zu, sie tropft auf Paul von Zweigen,
Wenn er im Schatten eines Baumes sitzt;
Sie sinkt in Paul, wenn, müde und verschwitzt,
Er zwischen hohen Felsen Kühlung findet.
Die laute Welt weiß nichts davon, doch spürt
Sie wohl, wie etwas Fremdes sie berührt,
Und fühlt, wie langsam ihre Macht entschwindet.
Bücher zum Vers (67)
Gerhard Kurz: Macharten. Über Rhythmus, Reim, Stil und Vieldeutigkeit.
Neben den so schon genannten Themen verzeichnet das Inhalsverzeichnis noch Kaptitel zu „Enjambement“ und „Klischee“; und das ist dann für ein knapp über 130 Seiten starkes Taschenbuch (erschienen 1999 bei Vandenhoeck & Ruprecht) doch schon einmal eine ganze Menge!
Und das meiste ist auch durchaus mit Gewinn zu lesen; gerade bei Begrifflichkeiten wie „Klischee“, die ja nicht einfach zu fassen sind. Am Ende des entsprechenden Kapitels (S. 84) findet sich zum Beispiel dieser Satz:
„So lange wir noch an Bildung wachsen“, schreibt Friedrich Schlegel zu Anfang seiner Charakteristik Über Lessing (1797), muss man der „gewöhnlichen Behauptung: es ist eigentlich schon alles gesagt“, die Behauptung entgegensetzen: „Es sei eigentlich noch nichts gesagt; nämlich so, dass es nicht nötig wäre, mehr, und nicht möglich, etwas Besseres zu sagen.“
… und den kennengelernt zu haben, hat mich erfreut.