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Erzählverse: Der Blankvers (43)

Das erste Drittel, in etwa, von Carl Spittelers „Schwalbenschwanz (I)“ liest sich so:

 

Ein kleiner Hof, von Mauern rings umschlossen. –
Über den Mauern rote Dächer. Jenseits
Ein grüner Hügel. Längs dem grünen Hügel
Ein Taubenflug, verschwindend in der Ferne.

Im offnen Holzschopf sitzt auf einer Schaukel,
Das Seil umklammernd und mit Stirn und Wange
An seine rechte Hand geschmiegt, ein Knabe.
Mit trägen Schwüngen steigt die Schaukel windschief
Vorwärts und rückwärts; oben, unterm Pfosten,
Beim Rückweg girrt die Angel, sanft und singend.

Über das Mauerdächlein, rechts, vom Pfarrhof,
Flog eine Iriskugel, grün und golden
Von funkelndem Smaragd, spiegelnd den Weltball
Und träumerisch ihn hold verschönend. Dann
Ihr folgend eine veilchenblaue, glitzernd
Von Silberseen und Fenstern; in den Fenstern
Die Pfarrerkinder, schauend durch den Purpur.
Und also fort. Und wenn ein Irisweltball
Zersprang, so hinterließ er Hauch und Reinheit.

 

– Mehr Beschreibung als Erzählung, schön langsam und verhalten?

Aus Versbausicht vielleicht recht bemerkenswert Spittelers „versetzte Betonungen“ … Die stehen, für gewöhnlich, am Anfang des Verses, so wie hier zum Beispiel in diesem Vers:

Über / das Mau– / erdäch– / lein, || rechts, / vom Pfarr– / hof,

X x / x X / x X / x || X / x X / x

Sie können aber auch im Versinneren stehen, und zwar, wenn der Vers eine kräftige Zäsur hat; dann ist der Neueinsatz nach der Zäsur sehr ähnlich dem Neueinsatz am Versbeginn! Spittler hat das in diesem Vers so gehandhabt:

Von funk– / elndem / Smaragd, || spiegelnd / den Welt– / ball

x X / x X / x X || X x / x  X / x

Eigentlich belastet eine solche versetzte Betonung den Vers mehr als eine am Versanfang, auch, weil der Vers dann kaum noch in die eigentliche Bewegung zurückfindet – „spiegelnd den Weltball“, „X x x / X x“, ist ja die Schlussformel eines Hexameters und hat am Ende eines Blankverses nicht so viel verloren! Aber als Ausnahme kann man sowas immer machen als Verfasser, und es ist eine der vielen Möglichkeiten, den Blankvers aufzulockern und damit das Ohr neugierig zu erhalten.

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Bücher zum Vers (49)

Janos Riesz: Die Sestine

Sestinen sind recht umfangreiche Gedichte, sie haben 39 Verse; und im Aufbau sehr ungewöhnlich. Daher sind sie seit dem Mittelalter zwar immer wieder geschrieben worden, aber nie in übermäßig großer Zahl, und im Deutschen noch seltener als in anderen europäischen Sprachen und Literaturen.

Eine neuere Sestine von Oskar Pastior (der ein ganzes, durchaus lesenswertes Büchlein mit Seistinen gefüllt hat) gibt es auf lyrikline zu lesen und zu hören:

fortschreitender metabolismus in einer sestine

– Aber wie das so ist mit Pastiors Texten – sie sind gewöhnungsbedürftig. Ein besseres Beispiel ist also vielleicht diese Sestine von Elizabeth Bishop:

A miracle for breakfast

Wenn man aber nun wissen will, woher die Sestine kommt, wer sie in den letzten achthundert Jahren geschrieben hat, welche Form sie im Deutsche, Englischen, Französischen, Italienischen und Spanischen angenommen hat, welche Inhalte in ihr umgesetzt worden sind: Dann ist man im Buch von Riesz gut aufgehoben. Erschienen 1971 bei Fink verhandelt es auf über 300 Seiten all das und noch mehr.

Vor allem, wenn man selbst (deutsche) Sestinen versuchen möchte, lohnt ein Blick in diesen Band also auf jeden Fall!

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Ohne Titel

Es gießt seit Stunden. Ilse hat Schutz gefunden unter einer kleinen Brücke, doch der Bach schwillt an, und ihre Füße werden nass.

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Erzählformen: Das Reimpaar (8)

In (7) waren in Bechers Versen schon erste Möglichkeiten zu sehen, den strengen Aufbau des Verspaars aus iambischen Vierhebern aufzulockern – unsaubere Reime, doppelt besetzte Senkungen. Von diesen Möglichkeiten gibt es einige, und je nach gewünschter Tonlage des Textes sollten sie auch eingesetzt werden! Ein wenig vorsichtiger als beim Blankvers sollte man schon sein dabei, der kürzere Vers ist empfindlicher gegen Eingriffe; aber es geht doch viel.

Ein Beispiel sind die folgenden 15 Verse aus dem „Wintermärchen“ von Christoph Martin Wieland:

 

Auf einmal steigt ein schwarzer Rauch
Aus des Gefäßes hohlem Bauch,
Verbreitet sich immer weiter umher,
Liegt wie ein Berg auf Land und Meer.
Der Tag erlischt, es donnert und stürmt,
Das Meer sich bis zum Himmel türmt.
Der Fischer, mit kalter Angst erfüllt,
Steht leblos, wie ein steinern Bild.
Plötzlich folgt eine Todesstille.
Der Nebel überwälzt sich, ballt
Zusammen sich, gewinnt Gestalt,
Und aus der grauen Wolkenhülle,
Die links und rechts herunter wallt,
Streckt ungeheure Riesenglieder
Ein fürchterlicher Geist hernieder.

 

Wieland war ein Meister der Versbehandlung, er wusste genau, wie sich Wiederholung und Abwandlung im vollkommenen Gleichgewicht halten lassen. In seinen Versen hier gibt es einiges an Abwandlung, trotzdem bleibt dieser Ausschnitt doch klar erkennbar vom iambischen Vierheber bestimmt, und vom Reimpaar?!

– Es gibt einige doppelt besetzte Senkungen, in einem Vers sogar zwei:

Verbrei– / tet sich im– / mer wei– / ter umher,

x X / x x X / x X / x x X

Aber diese Abweichungen wirken nie zu stark, weil die Verse davor und dahinter sie gleich wieder „einfangen“.

– In einem Vers fehlt die unbetonte erste Silbe, er beginnt betont:

Plötz– / lich  folgt / eine To– / desstil– / le.

X / x X / x x X / x X / x

Die fehlende unbetonte Silbe wird aber gleichsam „nachgeliefert“ in der doppelt besetzten Senkung!

– Wielands Reime sind sehr sauber, einmal fällt er aber aus dem Paarreim heraus:

„-stille“ muss zwei Verse lang warten, ehe es mit „-hülle“ zum Reim vervollständigt wird; und das zwischen beiden eingeschobene Reimpaar „ballt“ /  „-stalt“ wird nach „-hülle“ noch einmal aufgenommen, „wallt“, ehe ein neuer Reim, ein gewöhnliches Reimpaar in die eigentliche Anlage zurückführt.

Das „Wintermärchen“ ist eigentlich kein Text in Reimpaaren, so häufig wie hier kommen sie längst nicht  immer vor; aber in der langen Verserzählung gibt es genug Stellen, an denen man ihrer Behandlung durch Wieland nachforschen kann. Auftaktige Vierheber sind darüber hinaus alle Verse, auch da lässt sich alles vieles abschauen!

Ich hänge noch die Verse an, in denen der aufgetauchte Geist einige Dutzend Verse später wieder verschwindet. Die Reimbehandlung in den ersten fünf Versen gleicht der gerade beschriebenen; einmal gibt es eine versetzte Betonung („Stürzend von“):

 

So sprach mit einer Donnerstimme
Der Geisterkönig und verschwand.
Und lange noch bebt Meer und Land,
Und von den Hügeln hallt die Stimme
(Gleich einem Wasser, das mit Grimme
Stürzend von Fels zu Fels sich brach)
Dem längst verschwundnen Geiste nach.

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Stillstand

Auf dem Klavier eine Vase, darin eine trockene Blume,
Welche zu Staub zerfällt, trifft sie ein einziger Ton.

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Das Ein-Vers-Gedicht (12)

„Die natürliche Tochter“ von Goethe ist ein eigenartiges Stück, in dem die Handelnden in verschiedenen Anordnungen herumstehen und sich in Sprichwörtern unterhalten.

– Das ist Quatsch, selbstredend. aber an manchen Stellen ist es wirklich so, zum Beispiel, wenn der Weltgeistliche anmerkt:

 

Die Trauer wird durch Trauren immer herber.

 

Das kann man als Lebensweisheit so stehen lassen. Der Herzog macht das im darauf folgenden Vers aber nicht, sondern stellt dagegen:

 

Durch Trauren wird die Trauer zum Genuss.

 

– Und der Leser kann sich aussuchen, welchem Sinnspruch er folgt …

Auch das restliche Gespräch der beiden hat noch einige dieser Sinnspruch-Blankverse zu bieten. Manche nicht ganz so aussagekräftig, zum Beispiel dieser Vers des  Weltgeistlichen:

 

Ein allgemeines Übel ist der Tod.

 

Da ist der Herzog ihm an Bedeutungsgehalt voraus, wenn er, diesmal immerhin einige Verse von der Anmerkung seines Gesprächspartners entfernt, anmerkt:

 

Das Wort verwundet leichter, als es heilt.

 

– Und das ist eine Wahrheit, die sich alle ab und an ins Gedächtnis rufen sollten. Finde ich … Einprägsam genug ausgedrückt hat sie Goethe in ihrer Blankvers-Gestalt jedenfalls – ein Vers, der ein Gedicht sein könnte.

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Erzählformen: Das Reimpaar (7)

Im siebten Band von Johannes R. Bechers gesammelten Werken – „Epische Dichtungen“, Aufbau 1967 – findet sich auch „Der Mann, der alles glaubte“, ein langer Text in Reimpaaren. Das fünfte Kapitel beginnt auf Seite 78 so:

 

PETER MURX IST EIN EIFRIGER ZEITUNGSLESER
ER LIEST SICH DEN KRIEG AN

Die Zeitung trug er stets bei sich,
In aller Früh zur Tür er schlich
Und nahm die Zeitung aus dem Spalt.
Gleich auf dem Gange macht er Halt
Und liest schnell jede Überschrift,
Ob’s nicht was ganz Besonderes gibt.

 

Wie für jeden Vers gilt auch für den iambischen Vierheber: Man muss sich Gedanken machen, wie er klingen soll. Wie der letzte Vers zeigt, streut Becher gerne eine zusätzliche unbetonte Silbe ein, was aber kaum auffällt (und wen es stört, der liest eben „Besond’res“).

Viel größere Wirkung hat da schon der Nicht-mehr-Reim „-schrift“ / „gibt“ … Auch das ein brauchbares Gestaltungsmittel, selbstredend. Becher macht davon häufiger Gebrauch, etwa auf den Seiten 83 und 84 – es geht auf den ersten Weltkrieg zu:

 

Natürlich stand auch in dem Blatt,
Dass wieder mal gesprochen hatt‘
Der Kaiser und das alle Welt
Aufhorcht, wenn eine Red er hält,
So las er – dick gedruckt – „AM WESEN,
AM DEUTSCHEN, WIRD DIE WELT GENESEN …“

Da springt auf unser Mann, es zieht
Ihn mächtig hoch, im Spiegel sieht
Er sich, er steht und salutiert
Und sagt zu sich: „WIR DEUTSCHEN! WIR!“
Steht stramm vor seiner Eskadron
– ein Bild hängt an der Wand davon -,
Dann ruft er von der Straß‘ die Buben,
Marschiert mit ihnen durch die Stuben.
Er schwingt – aus Holz ist er geschnitzt –
Den Säbel, dass es nur so blitzt.
Dann schnallt er sich die Trommel um
Und macht auch mit dem Mund: bumbum –
Und schreit „Hurra!“, stürmt in die Küche,
Erobert sie mit grimmen Flüchen,
Als Pauke nimmt ein Bub den Topf,
Darauf er mit dem Löffel klopft.
Die Mutter stellt sich vors Geschirr,
Der Kriegslärm immer wilder wird.
Die Buben haben Knallpistolen.
Zu schießen hat er schon befohlen,
Und wie es gerade schießen will –
Da wird’s auf einmal still, ganz still.
Es ist, als ob die Luft gerinnt
Und auf der Stell bleibt stehn der Wind.
Es lehnten sich hinaus die Wände,
Damit sie’s besser hören könnten –
Der Säbel, den er hochgeschwenkt,
Sich langsam, lautlos niedersenkt –
Und jemand ruft, bald fern, bald nah:
„KRIEG! KRIEG ERKLÄRT! DER KRIEG IST DA!“

 

– Da gibt es gleich drei Reimpaare hintereinander, die unsauber gereimt sind, „Und schreit …  wilder wird“, und da gibt Becher, einmal, sogar die Assonanz auf: „Wände / könnten“. Aber ich denke mir, insgesamt wirkt der Text schon einheitlich?! Auch wenn mal der Reim schwach ist oder fehlt, und trotz der oft gewollt gezwungenen Satzstellung hat er eine kräftige Bewegung, die den Leser mitnimmt (und den Sprecher noch viel stärker).

„1. Weltkrieg“ – „Lärm, Aufregung“ – „Stille“ – „Stimme“: das gab es, fällt mir gerade ein, schon einmal hier beim Verserzähler, bei Hexameter 43, wo Anton Wildgans‘ „Kirbisch“ vorgestellt wird. Vielleicht lohnt sich da ein vergleichender Blick, auch darauf, wie sich das Erzählen in der jeweiligen Form gestaltet?!

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Erzählverse: Der Hexameter (70)

Yang Wanlis „Frühlingsochse“

Die vierbändige „Sammlung chinesischer Klassiker“ (erschienen 2009 bei Fischer) enthält im zweiten Band eine Auswahl klassischer chinesischer Lyrik, darunter die Übersetzung eines Gedichts von Yang Wanli (1127-1206) durch Günter Eich in Hexametern: „Ich sehe meinen kleinen Sohn im Spiegel den Frühlingsochsen schlagen.“

Fünf Verse daraus:

 

Anders als das vergangene Jahr ist uns dieses voll Frohsinn.
Über die Ernte freut sich mein Sohn: er braucht nicht zu hungern.
Über die Ernte grämt sich der Ochs: sie macht ihn nicht fetter.
Sieh, wie die Weizenähren sich ballen, so kräftig wie Ruten,
Vollends der Reis: wie Perlen füllen die Körner den Scheffel.

 

Nun weiß ich nicht, wie gut das als Übertragung des chinesischen Textes ist; vom Standpunkt des deutschen Hexameters aus betrachtet gefällt’s mir ziemlich gut! Runde, feste und dabei doch bewegliche Hexameter. Ob man den zweiten und den dritten Vers so ganz und gar übereinstimmend bauen musste – wer weiß, was der ursprüngliche Text da vorgibt; „Ochse“ statt „Ochs“ hätte die Hexameter-Form ohne weiteres zugelassen, und bekanntlich lebt ein Hexameter-Text von der rhythmischen Abwechslung …

Schön jedenfalls, wie ein alter Vers vom einen Ende der Welt ein altes Gedicht vom anderen Ende der Welt ins heutige Deutsch holt. Und sich manchmal auch einfach nur einschmuggelt in eine Übersetzung, etwa, wenn Peter Leimbigler, ein Gedicht von Mei Yaochen (1002-1060) übersetzend, diesen deutschen Vers fertigt:

 

Wachsen im klaren Wind der Reis auf dem Halm und die Blumen.

 

– Und da kann man aus Hexameter-Sicht nicht klagen. Schön, auch wenn es keine Absicht war!