Hexameter und Reim (2)
Josef Weinheber hat einmal eine eigenartige Verwandlung von Hexametern in Reimverse vollzogen; zu finden ist sie im zweiten Band seiner gesammelten Werke, erschienen 1954 bei Müller, auf den Seiten 621 bis 624.
Zuerst wirkliche, reine Hexameter (ich führe nur den Schluss des Textes vor):
Ach, das Lebendige redet in immer wechselnden Zungen
und das Heutige denkt, sich formend, nimmer der Frühzeit.
Ob auch einstiger Klang Erinnrung leis noch heraufreicht,
weit durch tönendes Erbe bis her in unsre Bewährung,
wo die Liebenden wieder wie eh und je sich umarmen,
weitergebend des Gotts Gestalt, und süß, wenn nicht heldisch,
zeugen, gebären: Den Reim – jener frühen Gesänge Verwandlung.
– Da ist das Vorhaben auch inhaltlich schon vorgegeben: „Reim“, „Verwandlung“?! Wer mag, kann seine Hexameter-Sicherheit überprüfen, indem er bei diesen Hexametern die Zäsur zu finden versucht; ob es gelungen ist, erklärt Weinheber selber, der als nächsten Text folgen lässt „Die gleichen Verse, nach Zäsuren geteilt“:
Ach, das Lebendige redet
in immer wechselnden Zungen,
und das Heutige denkt,
sich formend, nimmer der Frühzeit.
Ob auch einstiger Klang
Erinnrung leis noch heraufreicht,
weit durch tönendes Erbe
bis her in unsre Bewährung,
wo die Liebenden wieder
wie eh und je sich umarmen,
weitergebend des Gotts
Gestalt, und süß, wenn nicht heldisch,
zeugen, gebären den Reim –
Jener frühen Gesänge Verwandlung.
Alle gefunden?! Jeder, der den vorletzten Vers anders zäsuriert hat, also nicht so:
weiter- / gebend des / Gotts || Ge- / stalt, und / süß, wenn nicht / heldisch,
sondern so:
weiter- / gebend des / Gotts Ge- / stalt, || und / süß, wenn nicht / heldisch,
– hat meine vollste Zustimmung … Sicher, „der Verfasser hat immer recht“; aber entweder hat er das hier ausnahmsweise nicht, oder Weinheber hat den Vers bewusst nicht an der Zäsur geteilt (was ihm sicherlich zusteht).
Wieder ein Text weiter: „Das Ergebnis im Reim“!
Ach, das Lebendige spricht
in immer wechselnden Zungen.
Hat auch der Toten Gedicht
die Welt schon gültig gesungen:
Da es noch Liebende gibt,
oh, dass es dem Reime gelänge,
süß, wenn nicht heldisch geübt,
Verwandlung der frühen Gesänge.
Das ist nur noch etwas mehr als die Hälfte des ursprünglichen Textumfangs?! Zwei eindeutige Reimstrophen, jedenfalls; und doch sind es noch Hexameter! Man kann den Zeilenumbruch an der Zäsur wieder herausnehmen:
Ach, das Lebendige spricht in immer wechselnden Zungen.
Hat auch der Toten Gedicht die Welt schon gültig gesungen:
– und schon ist jeder Vers für sich ein ganz gewöhnlicher Hexameter. Das aber im Verbund dieser beiden Verse eben doch der Klang das Sagen hat, und nicht die Bewegung, lässt sich daran erkennen, dass beide Verse genau gleich gebaut sind:
Ach, das Le- / bendige / spricht || in / immer / wechselnden / Zungen.
Hat auch der / Toten Ge- dicht || die / Welt schon / gültig ge- / sungen:
Beide Male:
X x x / X x x / X || x / X x / X x x / X x
Und eine solche Übereinstimmung ereignet sich in Texten, die vom Hexameter her gedacht werden, nur gelegentlich; dort gilt die Aufmerksamkeit den Abwandlungen der grundlegenden Bewegungslinie des Hexameters, und üblicherweise unterscheidet diese Bewegung sich dann von Vers zu Vers.
Hier aber sind es eben doch Reimverse, und zwei Verse, die durch den Gleichklang am Schluss verbunden sind, werden der Aufmerksamkeit, die dem Reim gilt, am besten gerecht, wenn die Bewegung bis dorthin gleich ist, also: nicht stört und nicht ablenkt.
Insgesamt eine lehrreiche Erfahrung, Weinheber beim Wechseln zwischen den Dichtungsarten und Dichtungsverständnissen über die Schulter zu sehen!