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Erzählverse: Der iambische Trimeter (15)

Ein recht kurzer Trimeter-Text von Christian Morgenstern:

 

Caesari immortali

Verzweifelnd, wie ich heut dem Unmut meiner selbst
entrinnen soll, ergreif‘ ich endlich den Plutarch
und schlage Cäsars Leben auf. Und mir geschieht,
als wüsch‘ ich mich in einem kalten klaren Quell
von aller Schwäche, Dumpfheit, Überspanntheit rein.
Ich fühle mich von jener zehnten Legion,
in die er seinen unüberwindlichen Willen goss;
und wo ein zager Flüchtling sich aufs Polster warf,
da steht ein straffer Krieger blitzenden Auges auf.

 

Inhaltlich muss ich Morgenstern die geschilderte Verwandlung glauben – bedenkenswerter sind sicherlich die Abweichungen, die er sich gegenüber dem strengen Auf und Ab des Trimeters erlaubt. Und da fällt eine sehr deutlich ins Ohr im drittletzten Vers, wo Morgenstern in einem einzelnen Wort gleich zweimal von der Lizenz Gebrauch macht, die Senkung statt mit einer unbetonten Silbe mit zwei unbetonten Silben zu füllen:

unüberwindlichen

X  x  x  X  x  x

Passt dann zum Inhalt, „überlebensgroß“, „alle Maße sprengend“ wären vielleicht passender; nur alternieren die dann wieder brav. Irgendwas ist immer …

Der Schlussvers nimmt diese plötzliche Beschleunigung dann noch einmal auf:

blitzenden Auges

X  x  x  X  x

– Wobei in allen Fällen die zwei unbetonten Silben so leicht sind, dass der Vers trotz allem kaum aus dem Tritt gerät. Wirkungsvoll!

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Das Rabenfass

Ein Schwarm Von Hundert Raben fiel in eine kleine Eiche ein, deren Äste klaglos neunundneunzig der Tiere trugen; unter dem Gewicht des letzten aber ächzte der Baum – und stürzte. Aus seinem Holz formte der Küfer ein Fass, das lange Jahre in Gebrauch war; nie aber wagte jemand, den einen Tropfen hineinzugeben, der es zum Überlaufen gebracht hätte.

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Erzählverse: Der Hexameter (64)

Hexameter und Reim (2)

Josef Weinheber hat einmal eine eigenartige Verwandlung von Hexametern in Reimverse vollzogen; zu finden ist sie im zweiten Band seiner gesammelten Werke, erschienen 1954 bei Müller, auf den Seiten 621 bis 624.

Zuerst wirkliche, reine Hexameter (ich führe nur den Schluss des Textes vor):

 

Ach, das Lebendige redet in immer wechselnden Zungen
und das Heutige denkt, sich formend, nimmer der Frühzeit.
Ob auch einstiger Klang Erinnrung leis noch heraufreicht,
weit durch tönendes Erbe bis her in unsre Bewährung,
wo die Liebenden wieder wie eh und je sich umarmen,
weitergebend des Gotts Gestalt, und süß, wenn nicht heldisch,
zeugen, gebären: Den Reim – jener frühen Gesänge Verwandlung.

 

– Da ist das Vorhaben auch inhaltlich schon vorgegeben: „Reim“, „Verwandlung“?! Wer mag, kann seine Hexameter-Sicherheit überprüfen, indem er bei diesen Hexametern die Zäsur zu finden versucht; ob es gelungen ist, erklärt Weinheber selber, der als nächsten Text folgen lässt „Die gleichen Verse, nach Zäsuren geteilt“:

 

Ach, das Lebendige redet
in immer wechselnden Zungen,
und das Heutige denkt,
sich formend, nimmer der Frühzeit.
Ob auch einstiger Klang
Erinnrung leis noch heraufreicht,
weit durch tönendes Erbe
bis her in unsre Bewährung,
wo die Liebenden wieder
wie eh und je sich umarmen,
weitergebend des Gotts
Gestalt, und süß, wenn nicht heldisch,
zeugen, gebären den Reim –
Jener frühen Gesänge Verwandlung.

 

Alle gefunden?! Jeder, der den vorletzten Vers anders zäsuriert hat, also nicht so:

weiter- / gebend des / Gotts || Ge- / stalt, und / süß, wenn nicht / heldisch,

sondern so:

weiter- / gebend des / Gotts Ge- / stalt, || und / süß, wenn nicht / heldisch,

–  hat meine vollste Zustimmung … Sicher, „der Verfasser hat immer recht“; aber entweder hat er das hier ausnahmsweise nicht, oder Weinheber hat den Vers bewusst nicht an der Zäsur geteilt (was ihm sicherlich zusteht).

Wieder ein Text weiter: „Das Ergebnis im Reim“!

 

Ach, das Lebendige spricht
in immer wechselnden Zungen.
Hat auch der Toten Gedicht
die Welt schon gültig gesungen:

Da es noch Liebende gibt,
oh, dass es dem Reime gelänge,
süß, wenn nicht heldisch geübt,
Verwandlung der frühen Gesänge.

 

Das ist nur noch etwas mehr als die Hälfte des ursprünglichen Textumfangs?! Zwei eindeutige Reimstrophen, jedenfalls; und doch sind es noch Hexameter! Man kann den Zeilenumbruch an der Zäsur wieder herausnehmen:

Ach, das Lebendige spricht in immer wechselnden Zungen.
Hat auch der Toten Gedicht die Welt schon gültig gesungen:

– und schon ist jeder Vers für sich ein ganz gewöhnlicher Hexameter. Das aber im Verbund dieser beiden Verse eben doch der Klang das Sagen hat, und nicht die Bewegung, lässt sich daran erkennen, dass beide Verse genau gleich gebaut sind:

Ach, das Le- / bendige / spricht || in / immer / wechselnden / Zungen.
Hat auch der / Toten Ge- dicht || die / Welt  schon / gültig ge- / sungen:

Beide Male:

X x x / X x x / X || x / X x / X x x / X x

Und eine solche Übereinstimmung ereignet sich in Texten, die vom Hexameter her gedacht werden, nur gelegentlich; dort gilt die Aufmerksamkeit den Abwandlungen der grundlegenden Bewegungslinie des Hexameters, und üblicherweise unterscheidet diese Bewegung sich dann von Vers zu Vers.

Hier aber sind es eben doch Reimverse, und zwei Verse, die durch den Gleichklang am Schluss verbunden sind, werden der Aufmerksamkeit, die dem Reim gilt, am besten gerecht, wenn die Bewegung bis dorthin gleich ist, also: nicht stört und nicht ablenkt.

Insgesamt eine lehrreiche Erfahrung, Weinheber beim Wechseln zwischen den Dichtungsarten und Dichtungsverständnissen über die Schulter zu sehen!

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Ohne Titel

Die Nacht hat mich berührt,
Nun muss ich wachen;
Der Weg zum Morgen führt
Durchs Geisterlachen …

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Erzählverse: Der Hexameter (63)

Hexameter und Reim

Hexameter reimen sich nicht. Das haben sie in der Antike nicht getan, und das haben sie in der Zeit seit 1750 auch im Deutschen unterlassen. Trotzdem ist ein Blick auf die wenigen gereimten Hexameter, die doch geschrieben wurden, ganz aufschlussreich, weil man an den Versuchen, den über den Rhythmus geregelten Vers mit dem über den Gleichklang geregelten Vers zu vermengen, erst richtig bemerkt, wie grundverschieden sie sind.

Dazu schreibt etwa Friedrich Georg Jünger in seinem empfehlenswerten kleinen Buch „Rhythmus und Sprache im deutschen Gedicht“ (Klett-Cotta 1987):

Das Reimen der Hexameter ist ein Missgriff. Hier hat der Reim nichts zu schaffen, denn im Hexameter ist nichts, was durch den Gleichklang eines Endreims zu binden wäre. Deshalb sind die gereimten Hexameter, in denen sich noch Gottsched versuchte, dem Ohr verdrießlich. Auch schläfern sie ein, weil das Ohr müde wird, den langen Vers auf den Reim, der ihn beendet, zu belauschen. Zu bedenken ist dabei, dass der Hexameter auf einen anderen Ausgang abgestellt ist als Reimvers, denn er zielt auf den Anfang, nicht auf das Ende des folgenden Verses.

Da finden sich schon wichtige Punkte, die gegen den gereimten Hexameter sprechen. Aber wie klingen solche Verse denn nun? Ich führe einfach mal einige des von Jünger erwähnten Gottsched an. Der verzweifelte Mitte des 18. Jahrhunderts an den gerade in Mode kommenden deutschen Hexametern und schrieb in seinen „Vorübungen der lateinischen und deutschen Dichtkunst“:

Wer also noch deutsche Hexameter machen will, der bemühe sich entweder, sie so schön und wohlklingend zu machen, als die lateinischen, bei denen man die Reime nicht vermisset: oder man gebe ihnen wenigstens Reime; dass sie doch auf eine Art ins Ohr fallen.

Wenn also jemand die Aeneis in Hexametern verdeutschen wollte, und so anhübe:

 

Waffen besing ich, und den, der von trojanischen Küsten
Welschlands Grenzen bezog, wo Latiens Ufer sich brüsten;
Welcher viel Unfalls erfuhr, als nebst der Götter Verhängnis
Iunons wütender Groll den Helden in manche Bedrängnis,
Teils auf der See, teils wieder zu Lande gezwungen zu schweben,
Eh er noch Alba gebaut, und Welschland Götter gegeben;
Bis der Lateinergeschlecht, der Rat der Albaner entsprungen,
Ja dir auch selber, o Rom, die erhabenen Zinnen gelungen.

 

so würde es eben so unrecht nicht klingen.

Das mag ich jetzt nicht beurteilen – spannender ist doch die Frage, wie es klingt im Vergleich mit ungereimten Hexametern?! Daher hier dieselbe Vergil-Stelle, diesmal in der Übersetzung von Johann Heinrich Voss:

 

Waffen ertönt mein Gesang, und den Mann, der von Toer-Gefild einst
Kam, durch Schicksal verbannt, gen Italia, und an Latinums
Wogenden Strand. Viel hieß ihn Land‘ umirren und Meerflut
Göttergewalt, weil daurte der Groll der erbitterten Juno;
Viel auch ertrug er im Kampf, bis die Stadt er gegründet, und endlich
Latium Götter empfing; woher der Latiner Geschlecht ward,
Und Albanische Väter, und du, hochtürmende Roma.

 

Und ich glaube, da wird dann schon klar, worauf Jünger hinauswollte, oder?! Aber auch andere als End-Reime stören im Hexameter – so findet sich etwa in der „Allgemeine Encyclopädie der Wissenschaften und Künste“ 1830 diese Bemerkung:

Aller Gleichklang stört das rhythmische Gefühl so sehr, dass in dem Distichon:

 

Stützen und schützen den Staat vermag die solonische Weisheit
Nicht durch geschriebenes Wort, nein! durch gesetzliche Tat.

 

der ähnliche Schluss des letzten Verses mit dem Einschnitte des ersten so sehr missfällt, als der Reim zu Anfange.

Und zumindest meiner Erfahrung nach stimmt das wirklich – wenn mir beim Hexameter-Schreiben mal aus Versehen ein Reim in den Vers gerät, bemühe ich mich immer, ihn rauszubekommen, auch dann, wenn die Reimworte inhaltlich gut passen; denn der Gleichklang stört in dieser Umgebung, er beansprucht Aufmerksamkeit, die sich auf anderes richten sollte.

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Anagramm-Geplauder (3)

Romantik ist ein Wort vieler Bedeutungen, als Anagramm-Quelle aber nicht sonderlich ergiebig?! Schaut man trotzdem, was sich machen lässt, stößt man auch auf einen Ausdruck äußerster Nicht-Romantik: Arm in Kot.

Derlei beiseite lassend, müsste man schon einige begriffliche Vorbereitungen treffen, sollen andere Anagramme Sinn ergeben … Versteht man „Romantik“ zum Beispiel nicht als eine „kulturgeschichtliche Epoche“, sondern als einen „sentimentalen Zustand des Gefühlsreichtums“, und nimmt man „Akt“ als den „Geschlechtsakt beim Menschen“ (alle Bestimmungen: Wikipedia), und schätzt man schließlich Rom als einen Ort ein, der „romantisch“ sein kann (eine Google-Suche lässt da durchaus hoffen): dann kann man, nach all diesen Vorbereitungen, einen kleinen begriffsbestimmenden Text wagen wie den hier:

Romantik:
Akt in Rom.

Aber das ist sicherlich ein Ertrag, der dem Aufwand wenig angemessen ist.

Obwohl, „kulturgeschichtliche Epoche“ – da gibt es auch eine anagrammatischen Widerspruch, gewissermaßen: Rom, Antik, Romantik – Welcher Begriff passt nicht in diese Reihe?! „Sesamstraße für Fortgeschrittene“, ich weiß; auch schlicht in der Art der Anagrammverfertigung …

Stimmungsbilder lassen sich vielleicht noch finden:

Karton / im
Kamin / rot /
Romantik

Auch kleine Szenen lassen sich entwerfen, verschiedene:

Im Karton:
Romantik.
Martin: „Ok,
Oma, trink!“

Aber gleichgültig, welche man wählt: Alle sind eher traurig als romantisch …

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Bücher zum Vers (44)

Joachim Wohlleben: Die Sonne Homers

Dieses schmale, knapp über hundert Seiten starke Taschenbuch ist 1990 bei Vandenhoeck & Ruprecht erschienen. Verhandelt wird in zehn Kapiteln der gewaltige Einfluss, den Homer auf die Menschen Ende des siebzehnten, Anfang des achtzehnten Jahrhunderts ausgeübt hat. Die einzelnen Kapitel sind dabei gewidmet: Winkelmann, Herder, Stolberg und andere, Hölderlin, Goethe, F. Schlegel, W. von Humboldt, Schelling und andere, Marx, Schliemann – alles Menschen mit großem Einfluss bis in die heutige Zeit, und alle auf die eine oder andere Art stark beeinflusst von Homer!

Goethe zum Beispiel. Erstaunlicherweise (man sollte meinen, er hätte genug über genug Selbstbewusstsein verfügt) stand ihm bei dem Plan eines epischen Werkes das gewaltige Beispiel des alten Griechen vor Augen; und er verzagte. Erst als Friedrich August Wolf 1795 gegen den Ilias- und Odysse-Verfasser „Homer“ aussprach und stattdessen mehrere Verfasser der beiden Epen annahm, fühlte sich Goethe frei. Wohlleben zitiert einen Brief Goethes an Wolf:

„Vielleicht sende ich Ihnen bald mit mehrerem Mute die Ankündigung eines epischen Gedichtes, in der ich nicht verschweige, wieviel ich jener Überzeugung schuldig bin, die Sie mirt so fest eingeprägt haben. Schon lange war ich geneigt, mich in diesem Fache zu evrsuchen und immer schreckte mich der hohe Begriff von Einheit und Unteilbarkeit der Homerischen Schriften ab, nunmehr da Sie diese herrlichen Werke einer Familie zueignen, so ist die Kühnheit geringer, sich in größere Gesellschaft zu wagen (…)“

Das so mögliche Werk war „Hermann und Dorothea“, und in der Elegie „Herrmann und Dorothea“ gibt es dann dieses Distichon:

 

Denn wer wagte mit Göttern den Kampf? und wer mit dem Einen?
Doch Homeride zu sein, auch nur als letzter, ist schön.

 

– Was dasselbe nochmal eingesteht, diesmal in Versform. Ähnlich groß war Homers Einfluss auch auf die anderen Betrachteten; erstaunlich, eigentlich, und sehr spannend nachzuvollziehen! Bei Schiller hat sich Wohlleben dabei den Titel des Bandes geborgt; dessen „Spaziergang“ schließt mit dem Pentameter

 

Und die Sonne Homers, siehe! sie lächelt auch uns.

 

Homer überall … Und für jeden, der heute in Versen erzählen möchte, sicher eine ebenso wichtige Größe!

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Ohne Titel

Es sitzt der Gilb in den Versen
Des neuen Jahrtausends, und lächelt,
Träge; dass eben
Die gelben Zähne zu sehn sind.