In gutgebauten Versen herrscht Spannung; das gibt ihnen Leben. Diese Spannung rührt von ganz verschiedenen Dingen her, am einleuchtendsten aus dem Gegensatz zwischen Vers und Satz (und seiner schlussendlichen Aufhebung). Längere Verse wie der Hexameter brauchen eine gewisse Fülle des Inhalts, um nicht blutleer zu wirken; andererseits müssen sie sich aber auch ansprechend bewegen, was leichter geht, wenn sie nicht bis obenhin mit „Dingworten“ vollgestopft sind.
Die folgenden Hexameter hat Schmidt von Werneuchen geschrieben:
Das Dorf Döbritz
Trotz des blendenden Pomps der weitgepriesenen Hauptstadt,
Ihrer Paläste Geschmuck von stolzen Atlanen und Löschhorn,
Ihrer Heiducken und Neger und Leiblakaien, von Goldlahn
Starrend, der blitzenden Kuppeln der Türme, des prahlenden Kunstschranks
Voll Antiken und Tand, der Sarkophagen von Marmor,
Trotz des vergötterten Parks Fasanen, Statüen und Taxus,
Silbereschen, Kaskad‘ und Lerchenbäume und Ahorn, –
Blieb mir’s im Herzen so leer; denn sieh, es kannte von Kind auf
Jene Reize der reinen Natur. Voll quälender Sehnsucht
Floh ich, zu heitern mich, jüngst in die stillen Schatten von Döbritz.
Das sind nur die Anfangsverse eines viel längeren Textes. „Fülle“ enthalten sie ohne Zweifel, gefallen wollen sie mir trotzdem nicht. Wohl, weil sie auf mich wie ein mit Möbeln zugerümpeltes Zimmer wirken; es ist viel enthalten in der Hauptstadt-Beschreibung, aber es steht nur nebeneinander, es führt kein Weg von einem zum anderen; was wozu gehört, muss erschlossen werden, ohne dass der Hörer / Leser durch eine überraschende Erkenntnis für diese Arbeit entschädigt würde.
Nur: Das muss so. „Blieb mir’s im Herzen so leer“ – und da passt es ja, wenn auch des Hörers Herz leer bleibt?! Ich bin gerne bereit, die Dinge so zu sehen … Vielleicht sind die Verse aber doch nicht absichtlich so unansehnlich, sondern der Verfasser ist einfach über das Ziel hinausgeschossen?!
Einige Vergleichsverse „aus Döbritz“:
Vom Kunstgärtner gepflegt, gedeihten an wärmender Sonne
Rechts Zwergbäumchen voll Bergamotten, Zitronen, Renetten,
Amarellen und Quitten, am Mauergeländer die Pfirs’chen,
Links Amaraten, Levkojen, und Judenkirschen und Fuchsschwanz,
Kaiserkronen und Myrte, Jelängerjelieber und Nelken;
Jenseits der Rasenallee ein Bett voll gestäbelter großer
Zuckerschoten, ein andres voll Netzmelonen; bei jedem
Stand ein Stäbchen und dran auf Papier der lateinische Name.
Unentschieden – die ersten fünf Verse scheinen mir „vollgestopft“, die letzten drei haben Fülle und doch Raum?!