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Bücher zum Vers (35)

Damaris Nübling u.a.: Historische Sprachwissenschaft des Deutschen.
Eine Einführung in die Prinzipien des Sprachwandels.

Da sagt der Titel schon alles. 2013 in vierter Auflage erschienen bei Narr, ist das ein Buch für die Uni („Narr Studienbücher“). Das soll aber niemanden hindern, reinzuschauen, denn es ist wirklich eine Einführung, will sagen, es wird wenig vorausgesetzt; und das meiste kann man auch nachvollziehen, ohne die Heerschar von Fachbegriffen zu verinnerlichen, die die Verfasser dem Leser nahebringen wollen und müssen. Dafür bekommt der Leser einen guten Überblick darüber, warum sich die deutsche Sprache wann wie gewandelt hat, und auch, wie sie es im Augenblick tut und in Zukunft wahrscheinlich tun wird – Wissen, das jedem selbst Schreibenden sehr nützlich ist, aber nicht weiter in die Feinheiten gehend, als unbedingt nötig.

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Erzählverse: Der Hexameter (46)

In gutgebauten Versen  herrscht Spannung; das gibt ihnen Leben. Diese Spannung rührt von ganz verschiedenen Dingen her, am einleuchtendsten aus dem Gegensatz zwischen Vers und Satz (und seiner schlussendlichen Aufhebung). Längere Verse wie der Hexameter brauchen eine gewisse Fülle des Inhalts, um nicht blutleer zu wirken; andererseits müssen sie sich aber auch ansprechend bewegen, was leichter geht, wenn sie nicht bis obenhin mit „Dingworten“ vollgestopft sind.

Die folgenden Hexameter hat Schmidt von Werneuchen geschrieben:

 

Das Dorf Döbritz

Trotz des blendenden Pomps der weitgepriesenen Hauptstadt,
Ihrer Paläste Geschmuck von stolzen Atlanen und Löschhorn,
Ihrer Heiducken und Neger und Leiblakaien, von Goldlahn
Starrend, der blitzenden Kuppeln der Türme, des prahlenden Kunstschranks
Voll Antiken und Tand, der Sarkophagen von Marmor,
Trotz des vergötterten Parks Fasanen, Statüen und Taxus,
Silbereschen, Kaskad‘ und Lerchenbäume und Ahorn, –
Blieb mir’s im Herzen so leer; denn sieh, es kannte von Kind auf
Jene Reize der reinen Natur. Voll quälender Sehnsucht
Floh ich, zu heitern mich, jüngst in die stillen Schatten von Döbritz.

 

Das sind nur die Anfangsverse eines viel längeren Textes. „Fülle“ enthalten sie ohne Zweifel, gefallen wollen sie mir trotzdem nicht. Wohl, weil sie auf mich wie ein mit Möbeln zugerümpeltes Zimmer wirken; es ist viel enthalten in der Hauptstadt-Beschreibung, aber es steht nur nebeneinander, es führt kein Weg von einem zum anderen; was wozu gehört, muss erschlossen werden, ohne dass der Hörer / Leser durch eine überraschende Erkenntnis für diese Arbeit entschädigt würde.

Nur: Das muss so. „Blieb mir’s im Herzen so leer“ – und  da passt es ja, wenn auch des Hörers Herz leer bleibt?! Ich bin gerne bereit, die Dinge so zu sehen … Vielleicht sind die Verse aber doch nicht absichtlich so unansehnlich, sondern der Verfasser ist einfach über das Ziel hinausgeschossen?!

Einige Vergleichsverse „aus Döbritz“:

 

Vom Kunstgärtner gepflegt, gedeihten an wärmender Sonne
Rechts Zwergbäumchen voll Bergamotten, Zitronen, Renetten,
Amarellen und Quitten, am Mauergeländer die Pfirs’chen,
Links Amaraten, Levkojen, und Judenkirschen und Fuchsschwanz,
Kaiserkronen und Myrte, Jelängerjelieber und Nelken;
Jenseits der Rasenallee ein Bett voll gestäbelter großer
Zuckerschoten, ein andres voll Netzmelonen; bei jedem
Stand ein Stäbchen und dran auf Papier der lateinische Name.

 

Unentschieden – die ersten fünf Verse scheinen mir „vollgestopft“, die letzten drei haben Fülle und doch Raum?!

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Der alte Streit

Eins muss ich dir, mein Kind, noch sagen:
Wie schön, wie schön ist dieses kurze Leben,
Worin noch jener Liebe Küsse beben,
Mit Wonnen, Hoffnungen, Entzücken, Plagen,

Und jedesmal mit innerem Behagen.
Ein rätseltiefer Einblick war gegeben,
Viel goldne Bilder sah ich um mich schweben;
Mein Ruhen ist ein ewig frisches Wagen.

Und dennoch, horch! Was flüstert mir im Herzen?
Was Liebe glaubt und hofft – ach der Verstand,
Bewohnt von bunten Spielen, Tänzen, Scherzen,

Zu wunderlichen Zuckungen sie band
Und seufzt vor bittrer Lust und süßen Schmerzen –
Noch hält auf uns der Zwingherr seine Hand.

 

Die Verse dieses Cento-Sonetts habe ich mir in dieser Reihenfolge ausgeliehen bei: Karl Marx, Gottfried Keller, Hermann Ling, Johann Wolfgang von Goethe, David Friedrich Strauss, Martin Greif, Theodor Körner, Joseph von Eichendorff, Robert Eduard Prutz, Stefan Andres, Wilhelm Müller, Albrecht Haushofer, Wilhelm Müller, Adelbert von Chamisso. Ich danke den genannten Herren!

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Erzählverse: Der Knittel (7)

Wilhelm Busch: Da hat man eigentlich streng alternierende iambische oder trochäische Vierheber im Kopf, die Verse aus Max und Moritz eben, oder aus der frommen Helene. Aber Busch hat selbstredend auch viele andere Maße genutzt – Hexameter (wie schon gezeigt), Distichen, Blankverse … Und Knittelverse! Die kommen zum Beispiel in der „Teufelswurst“ vor:

 

Das Pfäfflein saß beim Frühstückschmaus.
Er schaut und zieht die Stirne kraus.
„Wer“, fragt er, „hat die Wurst gebracht?“
Die Köchin sprach: „Es war die Liese,
Die Alte von der Gänsewiese.“
„Drum“, rief er, „sah ich in letzter Nacht,
Wie durch die Luft in feurigem Bogen
Der Böse in ihren Schlot geflogen.
Verdammte Hex,
Ich riech, ich schmeck’s,
Der Teufel hat die Wurst gemacht.
Spitz, da geh her!“ – Der Hund, nicht faul,
Verzehrt die Wurst und leckt das Maul.
Er nimmt das Gute, ohne zu fragen,
Ob’s Beelzebub unter dem Schwanz getragen.

 

Eigenartig ist, wie schroff der Vers wechselt: Die ersten fünf Verse sind ruhiges „Auf und ab“, dann folgen drei Verse, in denen Senkungen mit zwei unbetonten Silben besetzt werden; dann ein in zwei Zweiheber zerlegter Vierheber, worauf drei ruhige Verse folgen; und wieder doppelt besetzte Senkungen in den beiden Schlussversen. Trotzdem, oder gerade deswegen, ein durchaus einprägsamer Text?!

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Er kommt!

Der Wortumsteller kommt
und stellt um Worte die
und weiter immer um
stimmt bis mehr schließlich nichts.

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Erzählformen: Das Distichon (9)

Friedrich Hölderlins „Brot und Wein“ ist ein sehr berühmter Text. Er besteht aus neun Abschnitten, die wiederum aus jeweils neun Distichen bestehen; ich stelle hier aber nicht den ersten dieser Abschnitte vor (der ist so oberberühmt, dass ihn ohnehin fast jeder kennt), sondern den vierten!

 

Seliges Griechenland! du Haus der Himmlischen alle,
Also ist wahr, was einst wir in der Jugend gehört?
Festlicher Saal! der Boden ist Meer! und Tische die Berge
Wahrlich zu einzigem Brauche vor Alters gebaut!
Aber die Thronen, wo? die Tempel, und wo die Gefäße,
Wo mit Nektar gefüllt, Göttern zu Lust der Gesang?
Wo, wo leuchten sie denn, die fernhintreffenden Sprüche?
Delphi schlummert und wo tönet das große Geschick?
Wo ist das schnelle? wo brichts, allgegenwärtigen Glücks voll
Donnernd aus heiterer Luft über die Augen herein?
Vater Äther! so riefs und flog von Zunge zu Zunge
Tausendfach, es ertrug keiner das Leben allein;
Ausgeteilet erfreut solch Gut und getauschet, mit Fremden,
Wirds ein Jubel, es wächst schlafend des Wortes Gewalt
Vater! heiter! und hallt, so weit es gehet, das uralt
Zeichen, von Eltern geerbt, treffend und schaffend hinab.
Denn so kehren die Himmlischen ein, tiefschütternd gelangt so
Aus den Schatten herab unter die Menschen ihr Tag.

 

Eigentlich immer gültig, aber hier noch einmal gesagt und angemerkt: Solche Verse müssen laut gelesen werden! Mag sein, man kommt hier und da noch ins Schleudern, aber nach einigen Versuchen sollten die Bewegungslinien gefunden sein, und dann haben diese neun Distichen einen Zug und Schwung, der wirklich wunderbar ist.

Nur an einer Stelle macht eine Besonderheit Hölderlins die Versbewegung ein wenig unkenntlich:

Wahrlich zu einzigem Brauche vor Alters gebaut!

Wahrlich zu / einzi- / gem || Brauche vor / Alters ge- / baut!

Um dem „-gem“ die Hebungsstelle zuzuweisen, es als schwere Silbe zu betrachten: muss man den Vers schon sehr griechisch-antik denken … So etwas machte kein anderer Dichter, und auch Hölderlin nicht allzu häufig; aber während zum Beispiel Schiller in der Pentameter-Mitte fast immer einen klaren Einschnitt hat zwischen zwei deutlich betonten Silben, ist für Hölderlin die Pentameter-Mitte mehr ein Ort, wo zwei „schwere“ Silben aufeinanderstoßen, oft mit einem Sinneinschnitt verbunden; und ebenso oft nicht.

Wie man dieses „-gem“ nun im Vortrag verwirklicht – schwierig … Es einfach unbetont zu lesen, wird dem Vers jedenfalls nicht gerecht. Irgendeine Art von „Längung“ muss da sein, irgendein Verzögern; nur darf es auch nicht zu fremd wirken. Wie gesagt: Schwierig.

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Das Königreich von Sede (50)

Grübeleule! Grübeleule!
Sag, was ist der Sinn des Lebens?

Schemel steht und ruft die Worte
In des alten Waldes Stille,
Und die Stille tritt zur Seite,
Um die Worte durchzulassen,
Lässt sie durch und stellt sich wieder
An des alten Narren Seite –
Grübeleule! Grübeleule!

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Erzählverse: Der trochäische Vierheber (22)

Im vorgestern unter „Bücher zum Vers“ vorgestellten Arsenal findet sich auch manches Stück von Eduard Bauernfeld. Der war sich bewusst, kein „auctor maior“ zu sein, wie eines seiner Distichen verdeutlicht:

 

Publikum

Sage, was treibst du die Kunst? Erreichst doch nimmer das Höchste!
Pah! Ich befriedige mich, und ich genüge für euch.

 

– Kriegt einen Preis für die wirkungsvollste Verwendungs eines „Pah!“ in der deutschen Dichtung, nein?! Eine rührende Art bodenständiger Selbstbehauptung, jedenfalls. Jetzt aber zu einem der im Arsenal lagernden Texte des „auctor minor“ Bauernfeld:

 

Der beste Zustand

Nicht verliebt zu sein ist herrlich!
Alle Tagesstunden sind
Nun mein köstlicher Gewinn;
Muss jetzt nicht zu halben Tagen
Vor gewissen Fenstern lauschen,
Bin zu allem aufgelegt,
Habe Schlaf und Appetit.
Die Lektüre darf nicht ruhn,
Und der Menschen buntes Treiben
Steigt in klaren, frischen Bildern
Vor der freien Seele auf-
Und das freie Herz erstarkt,
Harrt in Ruhe seiner nächsten,
Seiner süßen Sklaverei!

 

Nichts besonderes, ein nettes, kleines Stück. In der Versbewegung kommt es mir allerdings ein wenig unentschlossen vor?! Das liegt, scheint mir, an den vielen betont endenden Versen. Fallen Versende und Satzende zusammen, kann die entstehende recht tiefe Pause die Rolle der unbetonten Schluss-Silbe im Vers übernehmen:

Alle Tagesstunden sind
Nun mein köstlicher Gewinn;

Hier gut erspürbar am zweiten, mit „Gewinn“ schließenden Vers. Im ersten Vers dagegen springt der Inhalt in den Folgevers,  die Pause ist, wenn überhaupt vorhanden, hier kurz; und darüber hinaus ist die Hebungsstelle auch noch mit einem recht schmalbrüstigen „sind“ besetzt, was den Versschluss über die fehlende unbetonte Silbe hinaus noch weiter verwischt.

Ich glaube, dieser bei vielen Verfassern zu beobachtende Gedanke, durch das gelegentliche Zulassen eines betonten Vers-Schlusses die Versbewegung ein wenig aufzulockern, der Auflockerung aber gleichzeitig wieder entgegenzuwirken durch die Pause, die beim Zusammenfall von Vers- und Satz-Schluss entsteht: dieser Gedanke ist gut, und wer seine Texte in trochäischen Vierhebern so anlegt, schreibt ausdrucksstarke, wohlgeformte Verse.