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Erzählverse: Der Hexameter (16)

Voß und Goethe (2)

Ich komme nochmal auf die unterschiedliche Gestaltung der Verseingänge zurück (siehe „15“). Wenn da schon bei einer zweisilbigen Einheit größere Unterschiede erkennbar sind, sollten diese Unterschiede doch, folgen am Versanfang gleich zwei dieser Einheiten aufeinander, noch viel größer sein?! Das ist wohl so. Wieder aus Goethes „Reineke“:

 

Und so ist der geistliche Stand gar schwach und gebrechlich

 

Und so / ist der / geistliche / Stand || gar / schwach und ge- / brechlich

Und so ist der“… Hm. Da ist ziemlich sicher auch der Verseingang „schwach und gebrechlich“?! Jedenfalls wundert es mich nicht, dass Voß bei seinen anspruchsvolleren Gedanken zum Rhythmus mit dem „Reineke“ gar nicht zufrieden war. Wie schrieb er doch 1794 in einem Brief an seine Frau:

Goethes Reineke Fuchs habe ich angefangen zu lesen; aber ich kann nicht durchkommen. Goethe bat mich, ihm die schlechten Hexameter anzumerken; ich muss sie ihm alle nennen, wenn ich aufrichtig sein will.

Ojemine … Als er Goethe dann ein paar Tage später schrieb, wollte er zum Glück nicht „aufrichtig sein“, sondern drückte seine Bedenken sehr höflich aus, nannte Goethes Verse aber auch „zu matt und zu einförmig“.

Goethe hatte nun gefragt, und war eben auch an den Meinungen der Metriker interessiert; aber wahrscheinlich hat er hier schon, wie später oft, mit seinem „Reineke“ gedacht:

 

Wär ich aus dem Banne gelöst, so hätt ich es besser,

 

Wär ich / aus dem / Banne ge- / löst, || so / hätt ich es / besser,

Aber bis er sich aus dem „Banne der Hexameter-Nachbildner“ zu lösen wusste, dauerte es noch. Und so lange schrieb er eben Verseingänge wie „Wär ich aus dem“.

Wobei natürlich im „Reineke“ nicht alle Verseingänge mit doppelter zweisilbiger Einheit so schwach sind. Der hier etwa ist deutlich kräftiger:

 

Durch ein Loch im Zaune zu kriechen gedachte die Schlange,

 

Durch ein / Loch im / Zaune zu / kriechen, || ge- / dachte die / Schlange,

Nur hätte Voß da dann eben über das Geschaukel der Amphybrachen – x X x-  geschimpft, die auf der Ebene der Sinneinheiten hörbar werden und zu rhythmischer Einförmigkeit führen:

Durch ein Loch / im Zaune / zu kriechen / gedachte / die Schlange,

Am Ende war  Voß‘ Vorstellung von „durch Kunst veredelter Natur“ nicht in Einklang zu bringen mit der Ungezwungenheit der Verse Goethes. Wunderbare Hexameter haben sie beide geschrieben, jeder auf seine Art; und am Ende sind die Verse Goethes die besseren, weil er mehr zu sagen hatte – eben der größere Dichter war. Victor Hehn hat über den „Reineke“ mal geschrieben, in ihm bewege sich „die deutsche Rede mit dem freiesten Behagen“; und das ist, finde ich, ein sehr passender Ausdruck.

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Die Bewegungsschule (1)

Was für ein Vers am Ende stehen soll, wird noch nicht verraten. Es wird ein Vers sein, der zu fremd ist, als dass man ihm zum Beispiel mit den Mitteln des alternierenden Reimverses beikommen könnte; und doch so vertraut, dass man mit ein wenig Geduld die Sprache erkennbar gestaltet und doch frei in ihm fließen lassen kann.

Die Grundeinheit des Verses ist das „tataTAM„, was meint: auf zwei unbetonte und leichte Silben folgt eine betonte schwere Silbe. Ich versuche, beide Eigenschaften – „unbetont oder betont“ und „leicht oder schwer“ gleichzeitig sichtbar zu machen; betonte Silben sind fett, unbetonte nicht fett; leichte Silben sind kleingeschrieben, schwere Silben sind großgeschrieben.

Der erste Schritt  zum späteren Vers ist nun: das Sammeln von tataTAMs.Da dieses um ihrer selbst geschieht, muss dabei keinerlei Rücksicht genommen werden auf die besonderen Bedingungen, die später im Vers herrschen werden, und man kann sich nach so reinen Vertretern umsehen, wie sie eben möglich sind!

In diesem Sinne empfehle ich, für die „ta“ Silben und Wörter zu verwenden, die schon „an sich“ eher leicht sind: also Hilfsverben, Pronomen, Präpositionen, Artikel, Vorsilben und dergleichen mehr: die „Bauwörter“ der Sprache. Die „TAM“ sollten dagegen zu den „Sinnwörtern“ gehören: Substantive, Adjektive, Verben, Adverben.

Außerdem: Die Silben und Wörter sind „leicht“, wenn sie kurze Vokale und wenig Konsonanten enthalten; sie sind „schwer“, wenn sie lange Vokale oder Diphtonge und viele Konsonanten enthalten.

So gesehen ist, für den Fall, dass alle drei Silben des tataTAMs mit einsilbigen Wörtern besetzt sind, „durch das All“ das schlechtere tataTAM verglichen mit „der vor Schmerz„!

Welche Möglichkeiten gibt es, derartige aus drei Einsilbern gebaute tataTAMs zu bilden? Wie klingen sie? Wie sieht es mit denen aus, bei denen ein zweisilbiges Wort mit einem einsilbigen Wort zusammensteht, wie bei denen, die nur aus einem einzigen dreisilbigen Wort bestehen? Wer mag: bitte alles denkbare versuchen! Es wird sich später als nützlich erweisen.

Dabei spricht nichts dagegen, schon kleine Geschichten zu schreiben – „Der Komet: Er erscheint, er zerbricht, er verglüht, er ist fort“. Oder man kann Wörter suchen, die aus zwei tataTAMs zusammengesetzt sind: „Generalintendant“, „Nuklearmedizin“. Oder man achtet bei dem, was man täglich so liest, auf solche doppelten tataTAMs: „Kalifornischer Herbst“ ist ein Gedichttitel von Brecht, der hier schon vorkam …

Wichtig ist eigentlich nur, soviele tataTAMs wie möglich in die Hand zu nehmen und ans Ohr zu halten, sie zu vergleichen und zu bewerten. Und, vielleicht noch zusätzlich: Ein Gespür für unwillkommene Gleichklangwirkungen zu entwicken. Das oben angeführte „er erscheint“ ist ein nicht so tolles tataTAM, weil sich das „er“ verdoppelt; und ganz übel sind doppelte tataTAMs wie das sprichwörtliche „Wie der Herr, so’s Gescherr“ – Reime sind für’s erste verboten! Es geht um die Bewegung, da lenkt der Klang nur ab. „Wie der Herr, so der Hund“ ist besser, aber immer noch gleichklängig durch das doppelte „h“.

So, das soll genügen für diesmal. Viel Vergnügen beim Sammeln!

 

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Die Bewegungsschule (0)

Sprache ist Bewegung. Wie sie sich im Vers bewegt: davon handeln die Beiträge der Bewegungsschule. Den Anfang sollen dabei die kleinsten möglichen Bewegungseinheiten bilden, die dann zusammengesetzt werden und erweitert und so schließlich einen Vers gestalten, der wie alle anderen vom Verserzähler vorgestellten Verse geeignet ist, in gebundener Rede zu erzählen.

Im Gegensatz zu den Beiträgen, die andere Verse vorstellen, soll es hier aber ausdrücklich die Möglichkeit geben, die im Vers verwendeten Bewegungseinheiten auch zu üben, angefangen bei den allereinfachsten!

Das ist, erst einmal, ein Versuch. Denn, seltsamerweise – was beim Sport-Training selbstverständlich ist, und was beim Erlernen eines Musikinstruments ohne Murren hingenommen wird, scheint beim Schreiben von Versen so gar nicht üblich zu sein: Das geduldige Einüben von grundlegenden Bestandteilen und Abläufen, völlig herausgelöst aus dem größeren Zusammenhang, also um ihrer selbst willen; frei von dem Verlangen, mit dem neu kenngelernten gleich ein vollwertiges Gedicht schreiben zu wollen.

Das sollte, denke ich, am Ende stehen: Wenn die Form so weit verinnerlicht ist, dass die Gedanken frei sind für die Inhalte, und die Beherrschung der Form den Ausdruck dieser Gedanken ermöglicht, statt ihn zu behindern. Denkt man über beides gleichzeitig nach, steht am Ende allerwahrscheinlichst ein Gedicht, das inhaltlich verworren und formal unansehnlich daherkommt; und das dem Schreibenden so die Freude an der neuen Form verdirbt!

So wird in den folgenden Beiträgen also vom Kleinen zum Großen fortschreitend ein Vers in seinen Bewegungsmustern entwickelt und bei jedem Schritt eine Anregung gegeben, wie das Vorgestellte vielleicht eingeübt werden könnte. Wem das „Kleine“ zu klein erscheint, kann auch zu einem späteren Zeitpunkt einsteigen; ich für mich nutze allerdings den hier verhandelten Vers auch erst seit Anfang des Jahres und habe das Einschreiben in ihn bei genau diesen kleinsten Dingen begonnen; und es als sehr hilfreich empfunden. Darüber hinaus sind diese Bewegungsmuster auch ganz allgemein nützlich!

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Wortlisten (3)

Schneepflug, Schwindsucht, Kornfeld, Mundvoll, Lehmkloß, Notsitz, Werkstatt, Wachzeug, Kantholz, Stummfilm, Putzfrau, Haustür, Weingott, Gleitschritt, Geldstück, Fallwind, Zahnfleisch, Wirtshaus, Fehlschlag, Kopfweh, Kratzfuß, Blaulicht, Schleppsinn, Rebhuhn, Hofnarr, Nachwelt, Landsmann, Trinkgeld, Weltraum, fischreich, Lehrbuch, Heilkunst, Hufschlag, Armbrust,  Lichtpunkt, Kreuzweg, Branntwein, Lindwurm, Frohsinn, Unmensch, Spickaal, Kindsbett, Kreuzleim, Spitzbart, Schuhwerk, Nachttopf, Türschloss, Bettstatt, Fehlschluss, Zwielicht, Kehrreim.

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Die Tage fliegen

Die Flagge einte
Die tiefen Galgen.

Die Fliege nagte
Die Faltengeige.

Die lang gefeite,
Die alte Fee: ging.

Die Gage entfiel.

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Erzählverse: Der Hexameter (15)

Voß und Goethe

Eine bemerkenswerte Beziehung“ Auf der einen Seite der gute, aber nicht herausragende Dichter, dabei aber ein ausgewiesener und allseits anerkannter Fachmann in metrischen Fragen, auf der anderen Seite der überragende Dichter, der aber in metrischen Fragen oft unsicher war und Rat suchte: Beim Thema „Hexameter“ begegneten die beiden sich immer wieder, bis Goethe den Vers schließlich aufgab.

Wie die Verhältnisse lagen, lässt sich vielleicht an zwei Zitaten zeigen. Das erste stammt von Wilhelm von Humboldt und findet sich in einem Brief aus dem Jahr 1797, in dem er auch auf Goethes hexametrisches Werk „Hermann und Dorothea“ zu sprechen kommt:

Goethe ist noch hier, er hat sein episches Gedicht beendigt, das unendlich schön ist und dessen Ende noch den Anfang selbst übertrifft. Auch mit dem Versbau hat er sich viel Mühe gegeben und mich oft konsultiert. Ich habe ihm meinen Rat ganz offen erteilt, und nicht wenig Verse hat er wirklich geändert. Allein sollte auch alles durchaus fehlerfrei sein, so wird der große Reichtum und die Kraft des Rhythmus ihm nie recht eigen sein, wenigstens nicht so prävalierend als in Voß.

Aha. „Unendlich schön“ kann er schreiben, der Goethe, aber die „Kraft des Rhythmus“ hat er nicht!

Goethe schrieb wiederum Humboldt in einem viel späteren Brief (1799):

Was Sie bei Gelegenheit eines erhöhteren Kunstausdrucks von Vossen und seiner Rhythmik sagen, davon bin ich mehr als jemals überzeugt, nur schade, dass ich kaum erleben kann, dass die Sache ins gleiche kommt … Ich habe jetzt mit dem besten Willen die Georgiken (Vergil-Übersetzung von Voß – F.) Wenn man die deutschen Verse liest, ohne einen Sinn von ihnen zu verlangen, so haben sie unstreitig vieles Verdienst, was man seinen eigenen Arbeiten wünschen muss; sucht man aber darin den geistigen Abdruck des himmelreinen und schönen Vergils, so schaudert man an vielen Stellen mit Entsetzen zurück, …

Soso: Rhythmisch ist er allen ein Vorbild, der Voß, aber was er an Inhalten bietet, führt zu Schaudern und Entsetzen!

Den beiden auf den Versen, äh, Fersen zu bleiben, dürfte also lohnen … Um ihre Schreibweise vergleichen zu können, hier noch je ein knapper Auschnitt – einmal aus Goethes Reineke Fuchs (in dem sich sicher Goethes sorgloseste Hexameter finden), und einmal aus Voß‘ Nacherzählung von „Philemon und Baucis“ (wodurch die Nähe zum antiken Vers ja schon „an sich“ da ist):

 

Braun erreichte das Schloss und fand die gewöhnliche Pforte
Fest verschlossen. Da trat er davor und besann sich ein wenig;
Endlich rief er und sprach: „Herr Oheim, seid Ihr zu Hause?
Braun, der Bär, ist gekommen, des Königs gerichtlicher Bote.
Denn es hat der König geschworen, Ihr sollet bei Hofe
Vor Gericht Euch stellen, ich soll Euch holen, damit Ihr
Recht zu nehmen und Recht zu geben keinem verweigert,
Oder es soll Euch das Leben kosten; denn bleibt Ihr dahinten,
Ist mit Galgen und Rad Euch gedroht. Drum wählet das Beste,
Kommt und folget mir nach, sonst möcht es Euch übel bekommen.“

 

Die Androhung von Strafe bei Goethe; bei Voss der Vollzug der (göttlichen) Strafe:

 

So die Hügel hinan, und des Bergs pfadlose Verwildrung,
Klimmen sie bang aufseufzend. Doch jetzt nicht weiter vom Gipfel
Mehr entfernt, als flieget der Pfeil von des Jünglinges Bogen,
Hören sie Sturm und Geheul und den Hall dumpfkrachender Donner
Unten im Tal, und ein Brausen, wie hoch aufbrandender Wasser.
Angstvoll wenden die Alten den Blick, und schaun voll Entsetzens
Ringsum Flur und Häuser versenkt in die steigende Sündflut,
Die am Gebirg aufschäumt‘, und dort mit zerfallenden Trümmern
Strudelte, dort wehklagendes Vieh, dort Menschen umhertrug,
Mütter und Greis‘ und Mädchen, um Bäume geschmiegt, in Verzweiflung.

 

Unterschiede sind erkennbar! Ich beschränke mich hier mal auf zwei.

Einmal die Füllung der zweisilbigen Einheiten am Versanfang: Sehr leicht bei Goethe („Denn es“, „Vor Ge-“ „Ist mit“), oft schwer bei Voss („Angstvoll“, „Ringsum“).

Dann die Natürlichkeit und Prosanähe bei Goethe, dagegen der rhythmische Gestaltungswille bei Voß, etwa in diesem Vers:

ren sie / Sturm und Ge- / heul || und den / Hall dumpf- / krachender / Donner

— v v / — v v / — || v v / — — / — v v / — v

Der ganze Vers ist, passend zum Inhalt, schnell (vier zweisilbige Senkungen), doch in dem Moment, wo der Donner kracht, setzt Voss einen Spondäus“ („Hall dumpf-„), zwei wirklich schwere, lange, kraftvolle Silben.

Ich sage jetzt, wohlgemerkt! nicht, Goethe ist besser als Voß, oder umgekehrt; ich möchte nur zeigen, dass die beiden doch arg unterschiedliche Vorstellungen von diesem Vers hatten.

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Ohne Titel

Nieselregen durchschlendert pantoffelfüßig den Himmel,
Trägt an die Melancholie freundliche Grüße mir auf.

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Erzählformen: Das Sonett (3)

Texte, die sich mit geschichtlichen Ereignissen beschäftigen, neigen schon „an sich“ zum Erzählen?! Hier ist es die Hinrichtung Ludwigs XVI., oder eben „Louis Capets“, die Georg Heym in einem Sonett schildert; ganz ohne eigene Meinung, einfach nur durch das Zeigen des Ablaufs, das zudem durch den Verzicht auf abschweifende Einzelheiten, durch die kurzen knappen Sätze Abstand schafft und eine Art gefühlsloser Unerbittlichkeit heraufbeschwört. Ein Gedicht, das man so schnell nicht wieder vergisst!

 

Louis Capet

Die Trommeln schallen am Schafott im Kreis,
Das wie ein Sarg steht, schwarz mit Tuch verschlagen.
Drauf steht der Block. Dabei der offene Schragen
Für seinen Leib. Das Fallbeil glitzert weiß.

Von vollen Dächern flattern rot Standarten.
Die Rufer schrein der Fensterplätze Preis.
Im Winter ist es. Doch dem Volk wird heiß,
Es drängt sich murrend vor. Man lässt es warten.

Da hört man Lärm. Er steigt. Das Schreien braust.
Auf seinem Karren kommt Capet, bedreckt,
Mit Kot beworfen, und das Haar zerzaust.

Man schleift ihn schnell herauf. Er wird gestreckt.
Der Kopf liegt auf dem Block. Das Fallbeil saust.
Blut speit sein Hals, der fest im Loche steckt.