Archiv für den Monat Juni 2014
Erzählverse: Der Blankvers (32)
Ein Gegenstück zu den Blankversen von Henry von Heiseler, vorgestellt im gestrigen Eintrag, sind die Blankverse dieses Eintrags, entnommen aus Karl Kraus‘ „Nach dreißig Jahren“ (ein langes Stück):
Nicht Schranken sind errichtet, nur ein Maß.
Und nicht von mir, bloß durch mich; weil ich bin,
nicht weil ich es bestimme. Solchen Wahns
verwäge und vermesse ich mich nicht
und maße mir nicht an, das Maß zu geben,
der längst erfuhr, wie gegen seinen Willen
die Welt läuft und wie seines Wirkens Spur
unkennbar wird im Fortschritt dieser Zeit.
Doch hebt die Spur sich ab vom Gegenteil,
im Negativ der Menschlichkeit bewahrt.
Vorhanden bin ich, und es hat sich vieles
an mir entschieden, da es von mir schied.
Nicht standzuhalten meiner Gegenwart
war die Bestimmung der Umgebenden,
und Rettung vor der Stimme, die sie anrief:
ein abgeredet Schweigen, das da wähnt,
ich sei nicht auf der Welt. Wie Angst im Wald,
sich Mut zu machen, schreit vor einem Feind,
der nur vermutet ist, so schweigen sie
laut auf vor dem, der immer gegenwärtig
und spürbar wirkend ihre Zeit durchquerte.
– Wie von Heiselers Verse voll sind von Gegenständlichkeit, so sind Kraus‘ Verse frei davon. Gänzlich frei! Tatsächlich ist ein Allerweltswort wie „Wald“ das gegenständlichste, was zu finden ist … Dadurch spielt sich für den Leser das Erfassen des Inhalts fast vollständig auf der Verstandes-Ebene ab, was ich ein wenig mühselig finde. Das soll nicht heißen, ein Gedicht dürfe nicht gedanklich oder philosophisch wirken; aber hier kommt ja auch noch dazu, dass Kraus den Satz dem Vers gegenüber bevorteilt, oft bis zur völligen Auslöschung, bis zur Unkenntlichkeit des Verses; und das ist dann doch etwas zuviel Prosanähe und etwas zu wenig an Gedichthaftem – zumindest für meinen Geschmack …
Und nicht von mir, bloß durch mich; weil ich bin,
Dieser Vers zeigt sehr deutlich, was ich meine: Nur Einsilber, nur Bauwörter; der Vers gewinnt keine Bewegungslinie, weil keine Silben wirklich herausgehoben zu werden verdienen?! Eine stumme, eine Gedanken-Übung eben.
ich sei nicht auf der Welt. Wie Angst im Wald,
Auch wenn es nur „Welt“, „Angst“ und „Wald“ sind: Auch dieser Vers besteht nur aus Einsilbern, aber die drei „Sinnwörter“ geben ihm immerhin einen gewissen Halt!
Warum ist das Publikum so frech gegen die Literatur? Weil es die Sprache beherrscht. Die Leute würden sich ganz ebenso gegen die anderen Künste vorwagen, wenn es ein Verständigungsmittel wäre, sich anzusingen, sich mit Farbe zu beschmieren oder mit Gips zu bewerfen.
Die Kraus’sche Prosa mag ich, im Gegensatz zu seinen Versen ; die vielen Aphorismen sind herrlich, eigentlich: alle.
Erzählverse: Der Blankvers (31)
Henry von Heiseler hat eine ganze Reihe von sogenannten „Einzelreden“ geschrieben, darunter auch die folgende.
Dichter
Ich schloss der Schätze goldne Kammer auf
Und hob aus allem Zierat ferner Tage –
Auf denen Licht liegt wie von einem Stern –
Geschmeide, das ich vor die Menge warf
Aus vollen Händen: hier der krause Reif,
Mit Zaubersprüchen, die voll Heilkraft sind,
Hier Zeichen, vielfach in den Stein geritzt,
Und vieler Grotten Glanz in Strahlenfarben.
Ich nahm aus alten Truhen voller Schmuck
Der Worte viel, die von erwähltem Leben
So überflossen wie aus gelben Zellen
Der Honig fließt – da wuchsen heilig mir
Die Worte in der Hand – wie Traubensaft
Der Beere Rundung dehnt – hin floss der Wein
Und ward ein starker Strom in meiner Hand
Und goss in alle Weiten seine Wellen.
Dann sang ich euch, was mir die Zeichen wiesen.
Da war ein Staunen rings und Preisen viel:
Nun baue, Meister! … Und ich rüstete
Den reichsten Tempel, und ihr lobtet mich,
Dem Schwung der Bögen gabt ihr hohen Ruhm,
Den Bildern, Fliesen, bunten Lampen auch
Und meiner Brunnen weißer Plätscherspielen …
Doch keiner suchte das verborgne Tor
Zum Heiligsten, darin geheimes Wunder
Aus eignen dunklen Kräften schäumt und glüht.
Dort hängt ein Spiegel, der das Feuer spiegelt.
Doch keiner suchte den geweihten Raum:
Denn seine Wände sind von schwarzem Erz,
Unheimlich ist der Boden wie das Eis,
Zwei kupferdunkle Greife halten Wache.
Das ist ein Dichter-Bild, das man haben kann, oder wahrscheinlicher, haben konnte; ich nehme an, heute sieht man die Dinge da etwas nüchterner. Ist aber nicht so wichtig, denn was den Text bedenkenswert macht, ist die Art, wie Vers und Satz sich eigenständig bewegen und sich doch des anderen immer bewusst sind. Das Ergebnis sind sehr wirkungsvolle Blankverse, meinen Ohren nach; und da macht es dann auch nichts, wenn ich manches nicht verstehe – „Und meiner Brunnen weißer Plätscherspielen“?!
Dieser Vers ist auch einer der wenigen, die man in ihrer Bewegung hinterfragen kann:
Und / meiner / Brunnen / weißer / Plätscher- / spielen
Nach dem einleitenden „Und“ folgen fünf Wörter der Bauart „X x“, was den Vers ein wenig eintönig und breiig wirken lässt. Eigentlich sind schon vier Wörter dieser Art eine Belastung, wie dieser Vers ganz gut zeigt:
Und goss in alle Weiten seine Wellen.
– Da finder sich „hintenraus“ keine starke, einprägsame Bewegung?!
Ansonsten macht der Vers von den Freiheiten, die dem Blankvers zur Verfügung stehen, keinen Gebrauch; lediglich am Schluss dieses Verses …
Nun baue, Meister! … Und ich rüstete
… besetzt die letzte Silbe des Verses, das „te-„, eine Hebungsstelle, wofür es eigentlich nicht geeignet ist: es mangelt ihm an Schwere.
Ohne Titel
Heinrich träumte SF. Die Gretchen, sein Forschungskreuzer,
Schoss durchs unendliche All gen Aqua, den Wasserplaneten,
Welcher nun, endlich! gewaltig und makellos blau auf den großen
Schirmen der Brücke erschien. Drei Forschungsreisen schon hatte
Heinrich abbrechen müssen, doch diesmal würde es glücken!
Nicht mehr lang, und er würde hinunter ins Meer ohne Ufer
Tauchen, um dessen Bewohner zu sehn; in zerbrechlichen Booten
Zahllose Wellen durchschaukeln; versuchen, vor mächtigen Stürmen
Schutz zu finden, die himmelan reißen die endlosen Wasser;
Dulden die ewige Regenflut, die sie wieder hinabzwingt;
Würde – Heinrich erwachte, und fluchte; und ging, um zu pinkeln.
Go: Die alten Meister (12)
Der alten Meister Pläne
Sind scharf und streng, sie zeigen,
Wenn man so will: die Zähne.
Bücher zum Vers (35)
Damaris Nübling u.a.: Historische Sprachwissenschaft des Deutschen.
Eine Einführung in die Prinzipien des Sprachwandels.
Da sagt der Titel schon alles. 2013 in vierter Auflage erschienen bei Narr, ist das ein Buch für die Uni („Narr Studienbücher“). Das soll aber niemanden hindern, reinzuschauen, denn es ist wirklich eine Einführung, will sagen, es wird wenig vorausgesetzt; und das meiste kann man auch nachvollziehen, ohne die Heerschar von Fachbegriffen zu verinnerlichen, die die Verfasser dem Leser nahebringen wollen und müssen. Dafür bekommt der Leser einen guten Überblick darüber, warum sich die deutsche Sprache wann wie gewandelt hat, und auch, wie sie es im Augenblick tut und in Zukunft wahrscheinlich tun wird – Wissen, das jedem selbst Schreibenden sehr nützlich ist, aber nicht weiter in die Feinheiten gehend, als unbedingt nötig.
Bild & Wort (62)
Erzählverse: Der Hexameter (46)
In gutgebauten Versen herrscht Spannung; das gibt ihnen Leben. Diese Spannung rührt von ganz verschiedenen Dingen her, am einleuchtendsten aus dem Gegensatz zwischen Vers und Satz (und seiner schlussendlichen Aufhebung). Längere Verse wie der Hexameter brauchen eine gewisse Fülle des Inhalts, um nicht blutleer zu wirken; andererseits müssen sie sich aber auch ansprechend bewegen, was leichter geht, wenn sie nicht bis obenhin mit „Dingworten“ vollgestopft sind.
Die folgenden Hexameter hat Schmidt von Werneuchen geschrieben:
Das Dorf Döbritz
Trotz des blendenden Pomps der weitgepriesenen Hauptstadt,
Ihrer Paläste Geschmuck von stolzen Atlanen und Löschhorn,
Ihrer Heiducken und Neger und Leiblakaien, von Goldlahn
Starrend, der blitzenden Kuppeln der Türme, des prahlenden Kunstschranks
Voll Antiken und Tand, der Sarkophagen von Marmor,
Trotz des vergötterten Parks Fasanen, Statüen und Taxus,
Silbereschen, Kaskad‘ und Lerchenbäume und Ahorn, –
Blieb mir’s im Herzen so leer; denn sieh, es kannte von Kind auf
Jene Reize der reinen Natur. Voll quälender Sehnsucht
Floh ich, zu heitern mich, jüngst in die stillen Schatten von Döbritz.
Das sind nur die Anfangsverse eines viel längeren Textes. „Fülle“ enthalten sie ohne Zweifel, gefallen wollen sie mir trotzdem nicht. Wohl, weil sie auf mich wie ein mit Möbeln zugerümpeltes Zimmer wirken; es ist viel enthalten in der Hauptstadt-Beschreibung, aber es steht nur nebeneinander, es führt kein Weg von einem zum anderen; was wozu gehört, muss erschlossen werden, ohne dass der Hörer / Leser durch eine überraschende Erkenntnis für diese Arbeit entschädigt würde.
Nur: Das muss so. „Blieb mir’s im Herzen so leer“ – und da passt es ja, wenn auch des Hörers Herz leer bleibt?! Ich bin gerne bereit, die Dinge so zu sehen … Vielleicht sind die Verse aber doch nicht absichtlich so unansehnlich, sondern der Verfasser ist einfach über das Ziel hinausgeschossen?!
Einige Vergleichsverse „aus Döbritz“:
Vom Kunstgärtner gepflegt, gedeihten an wärmender Sonne
Rechts Zwergbäumchen voll Bergamotten, Zitronen, Renetten,
Amarellen und Quitten, am Mauergeländer die Pfirs’chen,
Links Amaraten, Levkojen, und Judenkirschen und Fuchsschwanz,
Kaiserkronen und Myrte, Jelängerjelieber und Nelken;
Jenseits der Rasenallee ein Bett voll gestäbelter großer
Zuckerschoten, ein andres voll Netzmelonen; bei jedem
Stand ein Stäbchen und dran auf Papier der lateinische Name.
Unentschieden – die ersten fünf Verse scheinen mir „vollgestopft“, die letzten drei haben Fülle und doch Raum?!
Der alte Streit
Eins muss ich dir, mein Kind, noch sagen:
Wie schön, wie schön ist dieses kurze Leben,
Worin noch jener Liebe Küsse beben,
Mit Wonnen, Hoffnungen, Entzücken, Plagen,
Und jedesmal mit innerem Behagen.
Ein rätseltiefer Einblick war gegeben,
Viel goldne Bilder sah ich um mich schweben;
Mein Ruhen ist ein ewig frisches Wagen.
Und dennoch, horch! Was flüstert mir im Herzen?
Was Liebe glaubt und hofft – ach der Verstand,
Bewohnt von bunten Spielen, Tänzen, Scherzen,
Zu wunderlichen Zuckungen sie band
Und seufzt vor bittrer Lust und süßen Schmerzen –
Noch hält auf uns der Zwingherr seine Hand.
Die Verse dieses Cento-Sonetts habe ich mir in dieser Reihenfolge ausgeliehen bei: Karl Marx, Gottfried Keller, Hermann Ling, Johann Wolfgang von Goethe, David Friedrich Strauss, Martin Greif, Theodor Körner, Joseph von Eichendorff, Robert Eduard Prutz, Stefan Andres, Wilhelm Müller, Albrecht Haushofer, Wilhelm Müller, Adelbert von Chamisso. Ich danke den genannten Herren!
Erzählverse: Der Knittel (7)
Wilhelm Busch: Da hat man eigentlich streng alternierende iambische oder trochäische Vierheber im Kopf, die Verse aus Max und Moritz eben, oder aus der frommen Helene. Aber Busch hat selbstredend auch viele andere Maße genutzt – Hexameter (wie schon gezeigt), Distichen, Blankverse … Und Knittelverse! Die kommen zum Beispiel in der „Teufelswurst“ vor:
Das Pfäfflein saß beim Frühstückschmaus.
Er schaut und zieht die Stirne kraus.
„Wer“, fragt er, „hat die Wurst gebracht?“
Die Köchin sprach: „Es war die Liese,
Die Alte von der Gänsewiese.“
„Drum“, rief er, „sah ich in letzter Nacht,
Wie durch die Luft in feurigem Bogen
Der Böse in ihren Schlot geflogen.
Verdammte Hex,
Ich riech, ich schmeck’s,
Der Teufel hat die Wurst gemacht.
Spitz, da geh her!“ – Der Hund, nicht faul,
Verzehrt die Wurst und leckt das Maul.
Er nimmt das Gute, ohne zu fragen,
Ob’s Beelzebub unter dem Schwanz getragen.
Eigenartig ist, wie schroff der Vers wechselt: Die ersten fünf Verse sind ruhiges „Auf und ab“, dann folgen drei Verse, in denen Senkungen mit zwei unbetonten Silben besetzt werden; dann ein in zwei Zweiheber zerlegter Vierheber, worauf drei ruhige Verse folgen; und wieder doppelt besetzte Senkungen in den beiden Schlussversen. Trotzdem, oder gerade deswegen, ein durchaus einprägsamer Text?!