Erzählformen: Das Madrigal (1)

Nun ist das Madrigal, ich gestehe es, eher keine Möglichkeit, um mit Versen zu erzählen. Es ist eine schwer fassbare Art von Gedichten, aber im allgemeinen gelten diese Bedingungen:

– Ein Madrigal ist ein Reimgedicht

– Es ist zwischen fünf und 15 Verse lang

– Die Länge der Verse ist nicht festgelegt

– Die Reimanordnung ist frei

– Eine bis drei Waisen (also ungereimte Verse) sind möglich

– Das Versmaß ist oft iambisch, im wesentlichen aber frei

Lies: Man kann so ziemlich machen, was man will. Aber wie das mit großer Freiheit so ist – oft wird das Dichten dadurch nicht leichter, sondern eher schwerer. Einer, der mit so viel Freiheit allerdings glänzend zurechtkam, war Christoph Martin Wieland. Er benutzte solche Versanordnungen für längere Verserzählungen, ein Beispiel ist sein „Sommermärchen“. Der zweite Teil dieser etwas wunderlichen Rittergeschichte geht so los:

 

Herr Gawin eilt von dar,
wiewohl’s schon Abend war,
besteigt das Maultier ohne Zügel,
und ist, indem die Jungfraun gehn
ihm hoch vom Söller nachzusehn,
schon über alle Hügel.

Der Mond schien hell
zu seiner Reise;
sein Maul, nach Feenweise,
lief vogelschnell.
Der Löwenwald, das Schlangental
wird ohne Furcht passiert;
und wie der erste Morgenstrahl
die Welt illuminiert,
entdeckt das Schloss sich seinem Blicke,
das Schloss, der Strom und auch die Brücke
von glatt geschliffnem Stahl,
so schmal,
dass, wie ihr wisst, Herr Gries
(der doch sich Ritter schelten ließ)
vom Ansehn schon das kalte Fieber
bekam.

Herr Gawin war dem Zaudern gram.
Er denkt: „Wer sich den Teufel zu verschlucken
entschlossen hat, muss ihn nicht lang begucken.
Und wär’s ein Pferdehaar,
nur frisch hinüber!
Wenn wir erst drüben sind, ist’s Zeit genug
zu sehn, wie’s möglich war.“

 

der doch sich Ritter schelten ließ – der Grimm sagt zu „schelten“ in dieser Bedeutung: Jemandem einen Titel beilegen, besonders ein ehrendes Prädikat, mit dem Nebensinn, dass es unverdient ist, und gibt neben der Wielandstelle noch Schillers Und dieser Herzog, der sich sich den Guten schelten lässt als Beleg.

Die Madrigal-Eigenschaften sind alle da: Die  Reimstellung ist frei, sehr frei – am Ende reimt sich „Fieber“ mit dem sechs Verse später folgenden „-über“; die Verse sind unterschiedlich lang, da gibt es Einheber wie „bekam“, dem  zwei Verse später ein ausladendes Reimpaar aus fünfhebigen Vers folgt, und alles dazwischen. Die Versbewegung ist allerdings streng iambisch, und auch Waisen fehlen („genug“ wird in der nächstfolgenden Zeile durch „klug“ ergänzt).

Das alles wirkt sehr leicht, wie zufällig hingeschrieben; wer solche Verse aber schon versucht hat, weiß, dass sehr viel harte Arbeit nötig ist, bevor sich dieser Eindruck von Absichtslosigkeit einstellt.

Wieland war ein großer Verskünstler, und es lohnt sehr, sich seine Verse vorzusprechen (nicht: durchzulesen!). Hier ist das auch durch die Kürze vieler Verse eine Herausforderung, denn es gilt ja, den Reim geltend zu machen, also herauszuheben, ohne den Fluss des Satzes zu sehr zu behindern. (Wie nimmt man zum Beispiel „Fieber“ und „bekam“ auseinander, wenn die beiden Reimpartner erst später bzw. viel später folgen?!)Wenn man es einige Male versucht hat, klappt es aber, und dann staunt man, was für eine wunderbare Versmusik Wieland da geschaffen hat.

Da ist es auch nicht mehr so wichtig, dass der Inhalt heute ein wenig eigenartig wirkt … (Ich, für meinen Teil, mag aber auch den).

Ein Mensch

Die Stille birst! Es donnern die Gedanken
Hinauf zum Himmel und hinab zur Erde,
Und unter der phantasmenschweren Herde
Beginnt der tiefste Grund der Welt zu schwanken,

Und ach! Der frohe Geist, der erst die Schranken
Dem Zug geöffnet hat, ist schon vom Geistespferde
Herabgestürzt – mit flehender Gebärde
Beginnt er nun, dem Wüten nachzuwanken.

Doch schon umgibt ihn Stille.
Umgibt ihn Nichts. Nach diesem greift sein Wissen
Im Dämmerrest des einst so hellen Lichts.

Es formt sein letzter Wille
Aus ihm ein Bett, ein daunenweiches Kissen.
Darauf entschläft er, leis, und wird zu – Nichts.

Die Bewegungsschule (32)

Und wieder ein Besuch beim „Bewegungsschulen-Vers“:

ta ta TAM ta ta TAM || ta ta TAM ta ta TAM

– Mit ist er, seit die „Bewegungsschule“ ihre Tore aufgetan hat, so ins Ohr gegangen, dass ich ihn inzwischen überall heraushöre, auch, wenn der Text eigentlich anders gebaut ist und die kennzeichnende Vers-Bewegung nur ein einziges Mal aufklingt.

Als Beispiel nehme ich diesmal eine Stelle aus Richard Dehmels „Zwei Menschen. Roman in Romanzen“:

 

Und es führt ein Wildsteg durch Farrenkraut bergan.
Über Moos und Felsen schlüpft hüpfend das Licht
und blitzt im Dickicht; fern ruft ein Kuckuck.
Und es sprudelt ein Wasser durch tiefen, tiefen Tann;
da sitzt ein nacktes Weib, das Kränze flicht,
Kränze um einen glitzernden Mann.
Der singsangt:

Vor der Nixe vom Rhein kniet der Kobold vom Rhin
und bringt schön bang seine Brautschätze dar:
blaue Blumen, die nur im Freien blühn,
Männertreu, Pferdefuß, Jungfer im Grün,
und zur Hochzeit ein stumm Musikantenpaar:
Unke, die munkelt nur,
Glühwurm karfunkelt nur:
Ellewelline, husch, tanze danach!

 

Eigenartig, was die Handlung angeht?! Der gesuchte Verse ist jedenfalls dieser:

Vor der Nixe / vom Rhein || kniet der Kobold / vom Rhin

– Wobei das nach allem, was bisher hier über den Vers zu lesen war, ein klein wenig geschummelt ist: „kniet“ ist einmal ein Sinnwort und hat außerdem einen Doppellaut und einiges an Konsonanten – trotzdem habe ich diese Silbe als „leicht“ gewertet!  Das lässt sich vielleicht auf zwei Arten begründen: Einmal ist das „Knien“ geschwächt dadurch, dass es hinter „Rhein“ steht – einem noch schwereren Wort; und dann haben es die meisten Dichter auch nicht so genau mit dem Silbengewicht genommen, wie ich das hier der größtmöglichen Deutlichkeit wegen mache. Auch sind die beiden Halbverse ja  in gleicher Weise gebaut – ta ta TAM ta / ta TAM  – da ist die Versuchung, das „kniet“ im Rahmen einer Angleichung „leicht“ zu sprechen, noch größer?!

Aber das sind so die Stellen, wo sich der Vers des einen Verfassers vom Vers des anderen unterscheidet – und unterscheiden muss; jedem seine eigene Stimme, jeder ihren eigenen Vers.

Wer mag, kann den Vers ja mal wieder schreiben; ich gebe als Anregung noch einige Halbverse, auf die Schnelle bei Dehmel gesammelt. Die können als Startpunkt verwendet werden, oder irgendwo eingebaut; vielleicht sind sie auch für einen der Zweizeiler brauchbar, die ich schon einmal angeregt habe – „Grundvers“ + „Schlussvers“?!

ta ta TAM ta ta TAM || ta ta TAM ta ta TAM
ta ta TAM ta ta TAM ta ta TAM ta

Hier jedenfalls die Halbverse Dehmels:

Wenn der Himmel erscheint, Als ich gestern der Brief, Sonst möchte dir Eins, Der von Berghaupt wild,  Dass ich Seelen verließ, Wie sie strahlend den Dunst, Und es blaut eine Nacht, Und sie kehren zurück, Und im Haar einen Kranz, Und ein Lichtstreif schielt, Und die Orgel erbraust, Doch die Orgel verstummt, Und es rauscht nur und weht, Und sie wirbeln im Tanz, Und es rauscht nur und glüht,  Und sie staunen ins Land, Und das Weib schluchzt auf, Und sie wirft sich an ihn, Wenn ich spüre, wie’s wächst,

Ich bastle zum Abschluss selbst schnell ein Verspaar –

Doch die Orgel verstummt, und es blaut eine Nacht,
Wie auf ewig vor Schatten behütet.

– wobei der „Schlussvers“ auch bei Dehmel steht, genauso, als eigenständiger Vers. Also eigentlich ein vollständiges, wenn auch sehr kurzes „Cento“ …

Expertenrunde

„Ich betreibe Haarspaltereien“, wandte sich Ein Freund Letzter Worte an einen Frisör. „Ich auch“, antwortete der, worauf Der Freund Letzter Worte erwiderte: „Aber doch bloß quer!“

Erzählverse: Der Hexameter (56)

Wenn man sich, zum Beispiel auf Wikipedia, Carl Spitzwegs berühmtes Gemälde Der arme Poet ansieht, bemerkt man, dass an der Wand mit weißer Farbe das metrische Schema des Hexameters steht. (Der Wikipedia-Artikel behauptet seltsamerweise „An die Wand malte der Dichter mit roter Farbe wahrscheinlich das Versmaß des Hexameters.“ Hm.)

Diese Verbindung zwischen dem Verfassen von Hexametern und dem Leben in Armut fand ich ja noch nie sehr glücklich, doch vor einigen Tagen bin ich wieder daran erinnert worden durch einen Tagesspiegel-Artikel vom 14.7.2004, in dem Florian Felix Weyh über die Aussichten des heutigen Künstlers nachsinnt:

Heute steht der alternde Kunstheld genauso verloren auf dem Arbeitsmarkt herum wie ein Straßenkehrer ohne Schulabschluss. Mit kaum vermittelbaren Kenntnissen (‚Ich kann hexametern, aber nur bei sonniger Stimmung‘), fürs nachgeschobene Brotstudium zu alt.

Ja wie jetzt. Da hätte es sicher auch andere Beispiele gegeben … Aber gut. Ich verweise stattdessen auf Hölderlin, der in seinem „Archipelagus“ nicht den Hexameter als Beispiel für die brotlose Kunst gewählt hat, sondern mit Hilfe des Hexameters das vergebliche Schaffen nicht nur der Dichter, sondern aller beschrieben hat. Und wie:

 

Aber weh! es wandelt in Nacht, es wohnt, wie im Orkus
Ohne Göttliches unser Geschlecht. Ans eigene Treiben
Sind sie geschmiedet allein, und sich in der tosenden Werkstatt
Höret jeglicher nur und viel arbeiten die Wilden
Mit gewaltigem Arm, rastlos, doch immer und immer
Unfruchtbar, wie die Furien, bleibt die Mühe der Armen.

 

Wahrlich gewaltige Verse (die ersten Hexameter, die ich je gelesen habe), die oft wiedergegeben werden und zeigen, dass man vielleicht nicht reich, aber sicher berühmt werden kann mit dem „Hexametern“. Und das ist doch auch schon was …

Erzählverse: Der trochäische Vierheber (26)

In Gerhart Hauptmanns „Sämtlichen Werken“ finder sich im vierten Band, erschienen 1964 bei Proyläen, auf den Seiten 70-72 das Vierheber-Stück „Hoch im Bergland von Arkadien“. Dessen Anfang geht so:

 

Hoch im Bergland von Arkadien,
das in Argos‘ Ebne blicket,
rauchen Feuer. Hoch im Bergland
opfern die Pelager ihrem
unsichtbaren Gotte Zeus.
Sinnend steht der alte Priester
an dem roten Stein des Altars,
lauscht den Winden, lauscht dem Säuseln
gelber Blüten an der Felswand.
Und es lauschen die Pelager –
lauschen nur und sind erhoben.
Aber einer tritt zum Priester,
einer, der des Windes Säuseln,
der der Wolken Bergversammlung
nicht bemerkte, auch die Stille
nicht empfand, und sprach zu ihm:
„Nie noch sah ich unsre Gottheit,
die uns schützt und die uns führet,
sage mir, wie denk ich jenen
Gott mir? Zeige mir den Gott!“

 

– So muss es ja kommen, könnte man da sagen … Vom Vers her sind es ganz angenehme Vierheber, scheint mir? Sie formen, aber drängen sich nicht in den Vordergrund. Nicht nur angenehm, sondern ausgezeichnet erscheinen mir aber die Schlussverse des Stückes! Die Pelasger haben sich, nachdem der Zweifel erst einmal in der Welt war, schließlich abgewandt und andere Götter gefunden, aber:

 

Hoch im Bergland von Arkadien
sprach mit seinem unsichtbaren,
großen Gotte noch der Priester.
Der ging atmend durch die Berge
noch und bildete die Wolken,
warf den Bach hinab zu Klüften,
donnerte und spielte leise
mit den gelben Bergesblumen,
fürchtete die neuen Götter
nicht und zürnte nicht den Menschen;
und der Priester kniete nieder
wieder vor dem höchsten Gotte.

 

Schöne, ruhige, ausgewegene Bewegungen, gelassene Bögen, wenn man so will, passend zum Inhalt. „nieder“ / „wieder“ ist ein seltsamer Reim kurz vor Schluss?! Insgesamt jedenfalls eine angenehme Lese- und Hörerfahrung (wenn es kein anderer tut – sich selbst vorsprechen, die Verse; es lohnt sich!)

Es ist, wie es ist

„Nein! Nicht noch einen Sohn!“ Die Maus erträgt es nicht länger,
Stellt zum Kampfe zornmutig die Katze – und stirbt.

Bücher zum Vers (39)

Renate Kühn: Das Rosenbaertlein-Experiment. Studien zum Anagramm.

1994 bei Aisthesis erschienen und kein sehr umfangreiches Büchlein; trotzdem steckt sehr viel wissenswertes über das Anagramm drin!

Den Anfang macht unter dem Titel „Writing without Apoll I“ eine allgemeine Einführung in das Anagrammieren, weder auf das Deutsche beschränkt noch auf die Gegenwart, wenn auch mit dem Schwerpunkt dort.

Dann folgt das eigentliche „Rosenbaertlein-Experiment“, in dem die Verfasserin eine Gedichtzeile von Hans Arp, „und schert ihr Rosenbärtlein ab“, in einer leicht abgewandelten Fassung, „und scheert ihr Rosenbaertlein ab“, die schon in den Fünfzigern von Unica Zürn als Grundlage mehrerer Anagramm-Gedichte genutzt worden war, an mehrere Dichter und Dichterinnen geschickt hat, mit der Bitte,  aufgrund dieser Zeile ein eigenes Anagramm-Gedicht zu schreiben.

Der dritte Teil, „Writing without Apoll II: Versuch über das Rosenbaertlein-Experiment“, versucht Kühn zu ergründen, wie die jeweiligen Anagramme entstanden sind; welche Abläufe dabei eine Rolle gespielt haben.

Dabei hilft ihr der Schluss des Bändchens, die „Dokumentation“; hier berichten die Dichter selbst über ihr Vorgehen, oder / und es werden handschriftliche Seiten abgedruckt, auf denen die einzelnen Anagrammier-Schritte nachvollzogen werden können.

Wirklich Schluss ist aber erst nach „Statt eines Nachworts: Anagramm und Stereogramm“.

Insgesamt sehr lohnend! Wer dem Anagramm gewogen ist, sollte bei Gelegenheit unbedingt in diesen Band hineinschauen.

Als Beispiel führe ich noch ein Anagramm-Gedicht Unica Zürns an, bei Kühn zu finden auf Seite 46; von ihr zitiert nach dem ersten Band der Unica-Zürn-Gesamtausgabe, erschienen 1988 bei Brinkmann & Bose, dort zu finden auf der Seite 51.

 

Und scheert ihr Rosenbaertlein ab

Tristan neben Isolde – herber Rauch
irrt ueber das harte Leben. In schon
bleicher Birne aus sternroter Hand
bau’n die Lerchen ihr Nest. Aber rot,
rebenrot schneit es Baldrianruhe.

 

Sehr beeindruckend. Anagramm-Generatoren, wie es sie heute gibt, waren vor bald 60 Jahren nicht verfügbar – spannend zu überlegen, wie sich dadurch die Arbeitsweise verändert, was für neue Möglichkeiten es gibt und wo die Gefahren liegen?!