Erzählformen: Das Sonett (8)

„Von Kindern“ ist ein Erzähl-Sonett von Gottfried Keller, und mir darum ein besonderes, weil es ihm gelingt, mir gleichzeitig zu gefallen und auf die Nerven zu gehen mit all seiner echten und / oder vorgetäuschten Niedlichkeit. Immerhin zeigt es ganz gut, wie sich der Sonett-Aufbau – zwei Quartette, zwei Terzette – mit den Anfordernissen eines „geordneten Erzählens“ vereinen lässt?!

 

Man merkte, dass der Wein geraten war:
Der alte Bettler wankte aus dem Tor,
Die Wangen glühend wie ein Rosenflor,
Mutwillig flatterte sein Silberhaar.

Und vor und hinter ihm die Kinderschar
Umdrängt‘ ihn, wie ein Klein-Bacchantenchor,
Draus ragte schwank der Selige empor,
Sich spiegelnd in den hundert Äuglein klar.

Am Morgen, als die Kinderlein noch schliefen,
Von jungen Träumen drollig angelacht,
Sah man den braunen Wald von Silber triefen.

Es war ein Reif gefallen über Nacht;
Der Alte lag erfroren in dem tiefen
Gebüsch, vom Rausch im Himmel aufgewacht.

Der Spiegel der vielen Stunden

In einer alten Chronik wird berichtet, wie Wilhelm der Genervte den Spiegel der vielen Stunden erwarb, und wie er mit Hilfe dieses Spiegels seinen Sohn, der als Junge nur der zapplige Bernhard gerufen wurde, von seiner Unrast befreite; und wie Bernhard, als er selbst König war, den Beinamen der Geduldige erhielt. Auch weiß die Chronik ein Rätseldistichon zu nennen, das auf diese Tat gemacht wurde:

Wer erzog zur Geduld den zappligen Bernhard? Sein Spiegel;
Schaute er morgens hinein, sah er erst abends heraus.

Erzählformen: Das Reimpaar (2)

Je zwei iambische Vierheber bilden ein Reimpaar; solche Reimpaare lassen sich dann in beliebiger Menge reihen. Die Grundeinheit besteht aber einfach aus zwei Versen, und sie kann sehr gut für sich allein stehen! Ein Beispiel dafür findet sich bei Friedrich von Logau, einem herausragenden Epigrammatiker des 17. Jahrhunderts – seine 3000 Epigramme starke Sammlung lohnt einen Besuch auf jeden Fall!

 

Den Geizhals und ein fettes Schwein
Sieht man im Tod erst nützlich sein.

 

Bitte: Rund, geschlossen, ausdrucksstark in der für ein Epigramm nötigen Zuspitzung. Mir gefällt es.

Iambische Vierheber schreiben sich einfach, daraus bestehende Reimpaare: desgleichen. Aber da macht man sich am besten erst gar nichts vor: Gute Verse sind harte Arbeit, und der iambische Vierheber macht da keine Ausnahme – „klingt gar nicht schlecht“ klappt fast auf Anhieb, „klingt wirklich gut!“ braucht viel Übung. Von daher: Wie wäre es mit ein paar eigenen Epigrammen im Reimpaar aus iambischen Vierhebern?! Die machen Spaß und sind eine wunderbare Übung: denn hat man nur zwei Verse, ist immer alle Aufmerksamkeit bei ihnen.

Ohne Titel

Ich weiß eine kleinste Geschichte:
Ein Mensch entdeckte, was ist,
Was war und was sein wird, doch leider
Nicht, wie man das wieder vergisst.

Erzählverse: Der Hexameter (65)

Catull, Ramler, Mörike

Eduard Mörike hat viel aus dem Griechischen und Lateinischen übersetzt, nach seiner ganz eigenen Vorgehensweise; die wird von Ulrich Hötzer so beschrieben:

Im allgemeinen formuliert Mörike den Text der Übersetzung, indem er auf vorhandene Übersetzungen zurückgreift. Meist überprüft er auch den originalsprachlichen Text mit Hilfe der wissenschaftlichen Ausgaben, und nicht selten übersetzt er ganz selbstständig. … Mörike wählt aus vorhandenen Übersetzungen diejenigen Wörter und Wendungen aus, die ihm für den Stil seines Übertragens angemessen scheinen. Oft kontaminiert er die aus mehreren Vorlagen ausgewählten Textstellen und mischt dabei auch eigene Formulierungen ein.

1790 hatte Karl Wilhelm Ramler einen Catull-Text übersetzt und veröffentlicht, und als Mörike 50 Jahre später eine Sammlung von übersetzten griechischen und lateinischen Dichtern plante, griff er auf Ramlers Text zurück. Nun könnte man viel schreiben zum antiken lateinischen Text, zu Ramlers Übersetzung, zu Mörikes Vorgehen – im Rahmen dieses Fadens ist eigentlich nur der Blick auf den Vers entscheidend, sprich: wie hat Mörike dabei den Hexameter behandelt, wo ist er Ramler in der Versgestaltung gefolgt, wo nicht; was haben das größere Dichtertum und 50 Jahre Erfahrung mit dem deutschen Hexameter an Verbesserungen gebracht; haben sie das überhaupt?!

Dazu hier die beiden Übersetzungen – zuerst die ältere Ramlers …

 

Der Gartengott

Jünglinge! Dieser Ort, dies Meierhöfchen im Bruche,
Das mit Riedgras gedeckt ist und mit geflochtenen Binsen,
Hab ich gesegnet, ich weiland trockener Eichstamm, gebildet
Durch ein ländliches Beil, und werd es ferner noch segnen;
Denn die Herren der armen Hütte, Vater und Sohn, sind
Beide meine Verehrer, und grüßen mich Gott …
Dieser jätet fleißig, und räumt von meiner Kapelle
Alle Dornen weg und alle stachligen Kräuter;
Jener bringt mit reichlicher Hand mir kleine Geschenke –
Mein ist das erste Blumenkränzlein im blühenden Frühjahr;
Grün noch werden mir Ähren mit zarten Spitzen verehret,
Mir der gelbe Mohn und mir die gelbe Viole;
Mir weit kriechende Kürbse, lieblich duftende Quitten,
Purpurtrauben, im Schatten der breiten Blätter erzogen.
Auch hat diesen Altar mir oft ein bärtiges Böcklein
(Aber plaudert nicht nach!) und ein hüpfendes Zicklein gefärbet.
Ehret man so Priapen, so muss er für alles auch stehen,
Muss das Gärtchen des Herrn und seinen Weinberg beschützen.
Hier, mutwillige Knaben, enthaltet euch also des Stehlens!
Neben an ist ein Reicher, und ein Priap, der nicht aufpasst:
Nehmt euch dort was; dann könnt ihr diesen Fußsteig zurückgehn.

 

… dann die jüngere von Mörike:

 

Der Feldgott

Hört, ihr Jungen, dies Feld und das Meierhöfchen im Moorgrund,
Leicht mit Röhrig gedeckt, mit geflochtenen Binsen und Riedgras,
Wurde gesegnet von mir, den ein ländliches Beil aus der Eiche
Trockenem Stamme geformt, und ich denk es noch ferner zu segnen.
Denn die Besitzer des ärmlichen Hüttleins, Vater und Sohn, sind
Meine Verehrer und grüßen mich Gott nach Würden; der eine
Ist gar eiferig immer bedacht, von meiner Kapelle
Weg die Dornen und wildes Gekräute zu räumen, der andre
Bringt mit reichlicher Hand mir beständig kleine Geschenke.
Mein ist das erste Kränzchen der Flur im blühenden Frühjahr;
Zart noch werden mir Ähren mit grünlichen Spitzen gewidmet,
Mir der geliebte Mohn und mir die goldne Viole,
Bläßliche Kürbisse dann und lieblich duftende Quitten,
Purpurtrauben, gereift in schützender Blätter Umschattung.
Oft auch pflegt mir diesen Altar ein bärtiges Böcklein
(Dies im Vertrauen gesagt) und ein Zicklein blutig zu färben.
Ehrt man so den Priapus, so muß er für alles auch einstehn,
Muss er des Herrn Weinberg und muss ihm das Gärtchen beschützen.
Hier mutwillige Knaben, enthaltet euch also des Stehlens!
Nächst hier an ist ein Reicher und steht ein Priap, der nicht aufpasst.
Nehmt euch dort was; dann mögt ihr den Fußsteig wieder zurückgehn.

 

Was fällt auf an Unterschieden in der Versbehandlung?

– Mörike hat auf Daktylen verzichtet, die eine starke Nebenhebung auf der zweiten Silbe haben. Wo Ramler in V2 „Riedgras ge-“ hat, versetzt Mörike das „Riedgras“ in die zweisilbige Einheit am Ende, was ja auch den Versschluss stärkt; beim ramlersche „Eichstamm ge-“ (V3) verteilt Mörike die beiden Sinnsilben „Eich-“ und „Stamm“ auf zwei betonte Versstellen; Ramlers „Fußsteig zu“- im letzten Vers wird zur zweisilbigen Einheit im Versinnern. Das „Weinberg be-“ aus Ramlers viertletztem Hexameter wird bei Mörike gar zu einem „geschleiften Spondäus“:

Muss er des / Herrn Wein- / berg || und / muss ihm das / Gärt– chen be- / schützen.

Der klingt zwar heute auch etwas ungewohnt, aber diese „Daktylen mit Nebenhebung“ haben im Laufe der Entwicklung des deutschen Hexameters immer weiter an Boden verloren – da spricht nicht unbedingt Mörike, sondern wohl eher die durch Versuch und Irrtum gewonnene Erkenntnis, dass solche dreisilbigen Einheiten der Versbewegung schaden.

– Mörike hat Verse mit mehreren aufeinanderfolgenden zweisilbigen Einheiten weitgehend vermieden. Ein Vers Ramlers hat sogar vier davon:

Mir der / gelbe / Mohn || und / mir die / gelbe Vi- / ole;

Da löst Mörike den zweiten auf, so dass der Dakytylus wieder an Boden gewinnt, passenderweise; der Hexameter ist schließlich, am Ende, doch ein daktylischer Vers.

– Mörike macht die Versbewegung durchsichtiger, hier etwa (vorletzter Vers):

Ramler: Neben / an ist ein / Reicher, || und / ein Pri- / ap, der nicht / aufpasst:
Mörike: Nächst hier / an ist ein / Reicher || und / steht ein Pri- / ap, der nicht / aufpasst.

Bei Ramler muss man die Betonung auf „ein“ mühselig ausrechnen, Mörike fügt ein „steht“ ein und gibt dem Vers damit viel größere Klarheit.

Auch in anderen Kleinigkeiten greift Mörike in Ramlers Vers ein – er verbessert an einer Stelle die Zäsur; er gibt den Versenden etwas mehr Gewicht; all solche Dinge. Deswegen gefällt mir seine Übersetzung auch etwas besser als Ramlers, obwohl die sicher auch nicht schlecht ist!

Schließen möchte ich mit zwei Anmerkungen Ramlers. Die eine machte er zum sechsten Vers:

Der Vers ist nicht zu Ende, wie man sieht, eben so wenig als im lateinischen Originale. Die Philologen haben ihn auf verschiedene Art auffüllen wollen. Vergil hat mehr dergleichen abgerissene Verse gemacht, und einige gewiss mit gutem Vorbedacht.

Mörike hat den Vers „aufgefüllt“; ob aus eigenem Antrieb oder veranlasst von einer unterschiedlichen Quelle, habe ich nicht nachgesehen. Allerdings verliert er so das engegensetzende „dieser“ … „jener“, und sein Vers geht nicht so toll los mit dem „Ist gar“?!

Die zweite Bemerkung ist inhaltlich und betrifft das eingeklammerte „Aber plaudert nicht nach!“, bzw. „Dies im Vertrauen gesagt“:

Weil den größeren Göttern nur ein solches Opfer zukommt.

Aha. Je nun, so ganz im Vertrauen: Sonderlich überzeugend kommt mir die Beweisführung des „kleineren“ Garten- oder Feldgottes ohnehin nicht daher?!

(Weil ein solches Opfer den größeren Göttern nur zukommt wäre mal eine Anmerkung in Hexameterform gewesen. Schade …)

An ***

Spärliches Wissen begründet dein Urteil, aber ein Urteil
Sprichst du, du urteilst und sprichst dadurch ein Urteil auch dir.

Bücher zum Vers (45)

Henning Boetius / Christa Hein: Die ganze Welt in einem Satz.
Sprach- und Schreibwerkstatt für junge Dichter.

„Für jugendliche Dichter“, scheint mir?! Auch wenn es nicht eigentlich ein „Buch zum Vers“ ist – Gedichte kommen nur am Rande vor, geregelte Verse gar nicht -, habe ich recht gerne hineingeschaut; die Dinge werden auf über 200 Seiten anschaulich und unter Verwendung vieler sinnvoller Übungen erklärt. Und spätestens die sind dann auch für nicht mehr jugendliche Leser durchaus noch förderlich … Bei dieser hier (Seite 107) habe ich mich an Rudyard Kiplings „Kim“ erinnert gefühlt:

Geh in einen dunklen Raum, knipse kurz das Licht an und mache es nach einigen Sekunden wieder aus. Danach geh nach nebenan und schreibe auf, was du alles bemerkt hast: Gegenstände, ihre Lage zueinander, Farben, Tapetenmuster, Vorhänge usw.

Nun weiß ich’s nicht sicher, ich bin schon ein Weilchen kein Jugendlicher mehr; aber ich kann mir zumindest vorstellen, dass die Dichter von morgen recht gern mit diesem Buch arbeiten.

Erschienen 2010 bei Beltz & Gelberg!