Um mit dem ganz eigenen Klang der alkäischen Strophe vertraut zu werden, empfiehlt es sich, viele Gedichte zu lesen, die dieses Maß benutzen; und bevorzugt die der besseren Dichter.
Das meint in diesem Fall zuallererst die Oden Hölderlins!
Hölderlin hat viele alkäische Oden geschrieben, und man kann seine Werke sogar nutzen, um der Klangwirkung von Abweichungen im Aufbau der Strophen nachzuspüren!
Eine kurze derartige Ode ist „Der Sonnenuntergang“:
Wo bist du? Trunken dämmert die Seele mir
Von aller deiner Wonne; denn eben ist’s,
Dass ich gelauscht, wie, goldner Töne
Voll, der entzückende Sonnenjüngling
Sein Abendlied auf himmlischer Leier spielt‘;
Es tönten rings die Wälder und Hügel nach.
Doch fern ist er zu fremden Völkern,
Die ihn noch ehren, hinweggegangen.
Schön! Da ist nun freilich nichts von einer Abweichung zu entdecken; die beiden Strophen sollen auch nur die Grundbewegung wieder in Erinnerung rufen.
Unter Hölderlins spätesten Gedichten, also denen aus der Zeit seiner Krankheit, findet sich gleichfalls eine zweistrophige Ode, „An Zimmern“:
Von einem Menschen sag ich, wenn der ist gut
Und weise, was bedarf er? Ist irgend eins
Der einer Seele gnüget? Ist ein Halm, ist
Eine gestreifteste Reb auf Erden
Gewachsen, die ihn nähre? Der Sinn ist des
Also. Ein Freund ist oft die Geliebte, viel
Die Kunst. O Teurer, dir sag ich die Wahrheit:
Dädalus Geist und des Walds ist deiner.
Eine andere Sprache, auch; aber vor allem sind die beiden dritten Verse um zwei Silben verlängert zu einem fünfhebigen Iambus anstelle des gewöhlichen vierhebigen – und das bringt den ausgeglichenen Bau der Strophe doch in Schieflage, es klingt nicht unbedingt schlecht, aber eben nicht mehr wie eine alkäische Strophe?!
Aus derselben Zeit gibt es noch eine andere alkäische Ode Hölderlins, von der ich die letzten drei Strophen vorstellen möchte:
Da, wo des Stromes regsame Wellen sind,
Dass einer, der vorüber des Weges kommt,
Froh hinschaut, da erhebt der Berge
Sanfte Gestalt und der Weinberg hoch sich.
Zwar gehn die Treppen unter den Reben hoch
Herunter, wo der Obstbaum blühend darüber steht
Und Duft an wilden Hecken weilet,
Wo die verborgenen Veilchen sprossen;
Gewässer aber rieseln herab, und sanft
Ist hörbar dort ein Rauschen den ganzen Tag;
Die Orte aber in der Gegend
Ruhen und schweigen den Nachmittag durch.
Vom Inhalt abgesehen: die drittletzte Strophe setzt den Aufbau der alkäischen Strophe ohne Abweichung um. In der vorletzten aber ist der zweite Vers verändert – auch hier sind zwei zusätzliche Silben eingeschoben! Und auch die letzte Strophe zeigt besonderes, zumindest wäre es für heutige Sprecher sehr ungewohnt, den letzten Vers so zu lesen, wie das Metrum es verlangte:
Ruhen und schweigen den Nachmittag durch.
Viel näher liegt:
Ruhen und schweigen den Nachmittag durch.
– Und da ist erstaunlich deutlich der Unterschied zu hören zwischen dem „gewöhnlichen“ Vers, in dem die vier Schluss-Silben die zuvor schnelle Bewegung wieder einfangen und die Strophe ruhig ausklingen lassen, und dem „Weiterrasen“, das durch den „Nachmittag“ in den Vers kommt?! Zum Vergleich:
Wo die verborgenen Veilchen sprossen;
Deutlich andere Bewegung, das.
Aber so nachhörenswert solche Abweichungen auch sind; viel lohnender sind bestimmt die „richtigen“ Oden Hölderlins. Wie anfangs gesagt: wer alkäisch schreiben möchte, sollte sich mit ihnen vertraut machen.