Erzählverse: Der iambische Trimeter (18)

„O Phantasie“ – so ruft Friedrich Rückert in seinem „Liedertagebuch“ von 1850 die Vorstellungskraft an; und schon da darf man gespannt sein, wie sich das Reiche, Bunte, Ausschmückende und Überbordende dieses Begriffs denn mit Rückerts oft staubtrockener Art verbinden lässt?!

 

O Phantasie, aus diesem Nebeljammertal,
Von dessen Brodem mir der Seelenodem stockt,
Komm, flügle mich auf goldner Schwing‘ in ein Gebiet
Von jenen vielen, die dir zu Gebote stehn.
Sei’s nun ein christlich himmlisches Jerusalem,
Sei’s ein aristophanisch Wolkenkuckucksheim.

 

– Schwer lässt es sich verbinden, scheint mir. Aber trotzdem ein lesbarer Text, im eindeutigsten Rückert-Ton … („in ein Gebiet“, ich glaube, das „ein“ muss ziemlich stark betont werden, damit es den folgenden Vers mittragen kann?! Sonst stünde dieser etwas verloren da.)

Ohne Titel

Auf den Menschen sitzen Teufel,
Kleine Teufel, aber viele,
Wirklich böse, aber dämlich:
Jeder redet, zu versuchen
Den, auf dem er sitzt, und alle
Reden lauthals durcheinander,
Und der Mensch, auf dem sie sitzen,
Neigt den Kopf: Da ist ein Summen,
Leise, fern und unerklärlich,
Unverständlich auch, er schüttelt
Zwei, drei Mal sich und ists los.

Erzählverse: Der Hexameter (103)

Ein „märchenhaftes Epos“ hat Albrecht Schaeffer seinen 1921 beim Insel Verlag erschienenen, 160 Seiten umfassenden „Gevatter Tod“ genannt; und das ist sicher eine zutreffende Beschreibung! Inhaltlich erinnert vieles an beispielsweise die Märchen der Brüder Grimm; der Hexameter, die für den Text gewählte Versform, ist der epische Vers.

Schaeffers Hexameter vom Beginn des 20. Jahrhunderts klngen deutlich anders als die zu Beginn des 19. Jahrhunderts geschriebenen; rauer, weniger rund. Vieles, was damals nicht denkbar gewesen wäre, wird nun umgesetzt, wie zum Beispiel längere Strecken einsilbiger Wörter!

Am Anfang der „zweiten Phase“ etwa spricht eine Frau, die schon 17 Kinder geboren hat und ein weiteres Mal dicht vor der Geburt steht, so mit ihrem Mann (Seite 14):

 

Aber ich bin es auch satt. Ja, höre nun, dies wollt ich sagen.
Denn ich weiß es seit langem bereits: dies ist nun das letzte
Mal, dass ich in die Welt ein Lebendiges setze. Ich selber,
Mann, verlasse sie nun. Es ist mir gleich, denn ich sagt es
Schon und sag es noch mal: die Last bin ich satt, und ich will nun
Ein Vergnügen für mich. Ich geh zu den heiligen Engeln,
Welche, soviel uns gesagt, nicht zeugen oder gebären.

 

– Vom vierten bis zum sechsten Vers gibt es hier eine Strecke von sagenhaften 26 einsilbigen Wörtern zu bestaunen! Das hat, wenig überraschend, Auswirkungen auf die Art, wie der Vers sich bewegt; insgesamt passt die leichte Kurzatmigkeit aber gut zum trocken-verbitterten Ton der Sprecherin?!

Und auch wenn es ein wenig schwieriger ist, die betonten Silben zu erkennen, gelingt es eigentlich doch immer.

Erzählverse: Der trochäische Fünfheber (6)

„Ludwig Strauss: Dichtungen und Schriften“ ist 1963 bei Kösel erschienen. Auf Seite 134 findet sich dort „Gelbe Rose“, ein Text in trochäischen Fünfhebern, dessen erster Abschitt so lautet:

 

Als die schmale Flamme ihrer Knospe
Sich geöffnet, lohten hierhin, dorthin
Blätter aus der Blüte, weit und weiter,
Bis das violette Herz entblößt lag,
Bis sie überm dringenden Sichöffnen
Aufrecht in der eignen Form zu stehen,
Selig Sinkende, vergaß.

 

Na gut, nicht wirklich „Erzählverse“; aber ein Beispiel mehr dafür, was dieser Vers leisten kann?! Auch der kürzere und männlich endende Vers, der den Abschnitt schließt, ist ein genaueres Hinhören wert; seine Wirkung ist beachtlich!

Das Königreich von Sede (70)

Frösche im raschen Sprung,
Vorne, wer klein und jung,
Hinten, wer alt und schwer:
Kommen vom Graben her,
Schemel zu grüßen;
Dann, ihm zu Füßen,
Hocken sich alle hin,
Liedervergnügt ihr Sinn:
Schemel erhört sie,
Singt und betört sie,
Dass sie des Hungers vergessen.

Erzählverse: Der Hexameter (102)

Nie haben Schiller oder Goethe in dieser Zeit eine Zeile in einer meiner Arbeiten selbst gestrichen, sie aber ebensowenig als fertig gesehen, so weit ich sie ihnen mitteilte. Zwei Gesänge der „Schwestern von Lesbos“ waren eben in dieser Weise vollendet, als Goethe, von meiner neuen Arbeit unterrichtet, sie zu hören begehrte. Ich las sie, auf sein Verlangen, ihm vor und erzählte ihm den Plan des Ganzen.

Als Goethe so gütig war, mir einige Bemerkungen wegen des Hexameters zu machen, entdeckte er, nicht ohne spaßhafte Verwunderung, dass ich noch gar nicht wisse, was ein Hexameter sei. Er sagte mir: „Ich verstehe, das Kind hat die Hexameter gemacht, wie der Rosenstock die Rosen trägt.“

Goethe selbst setzte sich hin, mir das Schema für diese Versform aufzuschreiben, die ich freilich von da an sehr ernstlich studierte, besonders an „Luise“ von Voss, die Goethe mir angeraten.

– So Amalie von Imhoff in ihren Erinnerungen – eine nette Geschichte! An ihren „Schwestern von Lesbos“, einem Epos in sechs Gesängen, hat Goethe auch nach der Fertigstellung regen Anteil genommen und viele Verbesserungsvorschläge gemacht. Als das Epos dann erschien, war es durchaus erfolgreich!

Wie aber liest sich Imhoffs Hexameter?! Einige Verse aus dem ersten Gesang, die Beschreibung eines „schönen Ortes“ mit allem, was dazu gehört:

 

Also im Wechselgespräch hinwandelnd, hatten die Schwestern
Nun den Brunnen erreicht, den oftbesuchten, wo grünend
Rings ein Rasen sich zog, von Wegen durchschnitten und ostwärts
Lieblich vom Hügel begränzt, der sanft und beschattet empor stieg.
Zwischen Zypressen schwankte die schlank-aufstrebende Pinie,
Dort, aus dunklerem Grün, erhob sie heiter die Krone;
Und so schmückte der Hain die Höhe mit wechselndem Kranze,
Senkte sich leichter hinab, im Kreise die Wiesen umfassend.
Hier entschäumte dem Felsen, den rings mit üppigen Ranken
Dunkler Efeu umschlang, die klare, reichliche Quelle,
Füllte mit leisem Geräusch das Marmorbecken und eilte,
Rieselnd des blühenden Tals zartduftende Blumen zu tränken,
Die in lieblicher Füll’, es lockte der wärmenden Sonne
Freundlicher Strahl sie hervor und der milde Odem des Lenzes,
Hier am Fuß entsprossten der hohen Zypressen; in Büschen,
Welche den Fels umwoben, ertönte der munteren Vögel
Fröhlich wechselnder Chor, leissummend schwärmten die Biene
Rings umher, in die Kelche der Hyazinthen sich senkend.

 

So etwas ist immer ein Heimspiel für den Hexameter, und auch hier liest es sich angenehm! Alles, was den Hexameter zu der Zeit auszeichnet (auch und gerade in der „Luise“), ist da: geschleifte Spondeen („Tals zartduftende“), schmückende Beiwörter („oftbesuchten“), grammatikalische Lockerungen wie abgetrennte Genitive („am Fuß entsprossten der hohen Zypressen“) oder „aus dem Nichts“ kommende Einschübe („es lockte …“) – fein!

Wie aber sieht es aus, wenn die Anforderungen größer werden? Immer noch der erste Gesang – „jedes“ und „es“: gemeint ist „Mädchen“ (in einer Gruppe junger Frauen ging ein Scherzwort zu weit):

 

Eh‘ mutwillig der Scherz den lächelnden Lippen entgleitet,
Sehe jedes doch zu, auf wen es richte die Pfeile.
Immerhin necke getrost der muntre Spötter den Gleichen,
Welcher die beißenden Worte gewandt und schnell ihm zurückgibt;
Aber kränkender ist und schmerzlich jenem des Witzes
Leichtverwundender Scherz, der unerfahren und schüchtern
Nicht den fröhlichen Spott beherzt zu erwidern geübt ist.

 

– Keine Beschreibung mehr, sondern Erklärung. Die Vers müssen auf Sinnlichkeit verzichten, was den Hexameter immer beeinträchtigt in seiner Wirkung. Aber auch hier bewegt sich der Vers gut, ein wenig gezwungen vielleicht, aber nicht viel?! Insgesamt ein nicht schlecht gemachtes, feines, kleines Epos!

Geschichten

Geschichten gibt es auch: vom Regelbruch.
Nun gibt es Regeln, wirklich! zur Genüge,
Da macht es nichts, komm ich daher und füge
Der unermesslich großen Zahl noch, huch!

– Da war der Vers zuend‘, der Regelbruch
Schon fast vollbracht, und eine ernste Rüge
Hätt‘ ich mir eingehandelt, ja ich lüge,
O glaubt mir, nicht: ich stünde im Geruch

Des Sonettisten, der den Reim verschludert,
Hätt‘ ich das Unglück nicht noch kommen sehen!
Nun gut, zurück zu der besagten Regel:

… Oh weh, mein Hirn, der schreckhaft-dumme Flegel,
Vergaß sie. Nun: auf See, wenn Stürme wehen
Und Donner kracht, da heißt’s: Zurückgerudert!

Erzählverse: Der trochäische Vierheber (44)

Ignaz Franz Castelli war kein sehr origineller Dichter; er hat, auch handwerklich mäßig geschickt, gestaltet, was andere schon vor ihm gestaltet hatten. Gerade darum aber ist er geeignet, den auch 1844 (da erschienen seine gesammelten Werke) schon etliche Jahrhunderte lang benutzten Vorrat an Wendungen zur Beschreibung der weiblichen Schönheit so, wie er ist, vor den Leser hinzustellen! Er tut das am Anfang von „Liebesfeuer“:

 

Donna Stella war die schönste
Von den Frauen in Sevilla;
Trug sie ihren Schleier offen,
Mussten ihn die andren senken.

Ihre Augen waren Sonnen,
Und das Feuer dieser Sonnen
Zog aus Männeraugen Wasser,
Die doch sonst nicht gerne weinen.

Ihre Haare waren Netze,
Von den Grazien selbst geringelt,
Dass die Locken mussten locken
Jeden, der sie sah, und fangen.

Ihre Lippen waren rote,
Zum Genuss geschwellte Beeren,
Die da winkten, dass sich jeder
Lüstern mühte, sie zu pflücken.

Ihre Zähne waren Perlen,
Die nicht schliefen in den Tiefen,
Sondern in dem mildsten Glanze
Jedem Auge offen lagen.

Ihre Haut war Alabaster,
Drin sich blaue Adern schlängeln,
Und der Aeolsharfe Tönen
Glichen ihrer Stimme Klänge.

Also war der Frauen schönste
Donna Stella in Sevilla,
Und kein Männerauge pflegte
Unbedarft ihr zu begegnen.

 

Vierhebige reimlose Trochäen, in Strophen geordnet; was freilich durch das aufzählende Wesen des Gedichts nicht weiter auffällt.

Wie ernst dieser Text gemeint ist, ist schwer zu sagen … Spätestens nach den „lockenden Locken“ der dritten Strophe möchte man an eine Parodie oder einen sonstwie humoristischen Text glauben; aber ich fürchte, das ist er einfach nicht?!

Immerhin bietet er in übersichtlicher Form eine Übersicht über die altbewährten Versatzstücke, die weibliche Schönheit zu beschreiben; wer das heute wagen will, tunlichst in unernster Absicht! kann sich hier bedienen.

Die vorgestern unter (43) vorgestellten Verse Adolf Peters‘ waren sicher keine Meisterwerke, aber verglichen mit denen Castellis doch eine andere Liga – eben weil Peters dem Vorgefundenen eine eigene Wendung gegeben hat. Keine aufsehenerregende; aber immerhin!