Nie haben Schiller oder Goethe in dieser Zeit eine Zeile in einer meiner Arbeiten selbst gestrichen, sie aber ebensowenig als fertig gesehen, so weit ich sie ihnen mitteilte. Zwei Gesänge der „Schwestern von Lesbos“ waren eben in dieser Weise vollendet, als Goethe, von meiner neuen Arbeit unterrichtet, sie zu hören begehrte. Ich las sie, auf sein Verlangen, ihm vor und erzählte ihm den Plan des Ganzen.
Als Goethe so gütig war, mir einige Bemerkungen wegen des Hexameters zu machen, entdeckte er, nicht ohne spaßhafte Verwunderung, dass ich noch gar nicht wisse, was ein Hexameter sei. Er sagte mir: „Ich verstehe, das Kind hat die Hexameter gemacht, wie der Rosenstock die Rosen trägt.“
Goethe selbst setzte sich hin, mir das Schema für diese Versform aufzuschreiben, die ich freilich von da an sehr ernstlich studierte, besonders an „Luise“ von Voss, die Goethe mir angeraten.
– So Amalie von Imhoff in ihren Erinnerungen – eine nette Geschichte! An ihren „Schwestern von Lesbos“, einem Epos in sechs Gesängen, hat Goethe auch nach der Fertigstellung regen Anteil genommen und viele Verbesserungsvorschläge gemacht. Als das Epos dann erschien, war es durchaus erfolgreich!
Wie aber liest sich Imhoffs Hexameter?! Einige Verse aus dem ersten Gesang, die Beschreibung eines „schönen Ortes“ mit allem, was dazu gehört:
Also im Wechselgespräch hinwandelnd, hatten die Schwestern
Nun den Brunnen erreicht, den oftbesuchten, wo grünend
Rings ein Rasen sich zog, von Wegen durchschnitten und ostwärts
Lieblich vom Hügel begränzt, der sanft und beschattet empor stieg.
Zwischen Zypressen schwankte die schlank-aufstrebende Pinie,
Dort, aus dunklerem Grün, erhob sie heiter die Krone;
Und so schmückte der Hain die Höhe mit wechselndem Kranze,
Senkte sich leichter hinab, im Kreise die Wiesen umfassend.
Hier entschäumte dem Felsen, den rings mit üppigen Ranken
Dunkler Efeu umschlang, die klare, reichliche Quelle,
Füllte mit leisem Geräusch das Marmorbecken und eilte,
Rieselnd des blühenden Tals zartduftende Blumen zu tränken,
Die in lieblicher Füll’, es lockte der wärmenden Sonne
Freundlicher Strahl sie hervor und der milde Odem des Lenzes,
Hier am Fuß entsprossten der hohen Zypressen; in Büschen,
Welche den Fels umwoben, ertönte der munteren Vögel
Fröhlich wechselnder Chor, leissummend schwärmten die Biene
Rings umher, in die Kelche der Hyazinthen sich senkend.
So etwas ist immer ein Heimspiel für den Hexameter, und auch hier liest es sich angenehm! Alles, was den Hexameter zu der Zeit auszeichnet (auch und gerade in der „Luise“), ist da: geschleifte Spondeen („Tals zartduftende“), schmückende Beiwörter („oftbesuchten“), grammatikalische Lockerungen wie abgetrennte Genitive („am Fuß entsprossten der hohen Zypressen“) oder „aus dem Nichts“ kommende Einschübe („es lockte …“) – fein!
Wie aber sieht es aus, wenn die Anforderungen größer werden? Immer noch der erste Gesang – „jedes“ und „es“: gemeint ist „Mädchen“ (in einer Gruppe junger Frauen ging ein Scherzwort zu weit):
Eh‘ mutwillig der Scherz den lächelnden Lippen entgleitet,
Sehe jedes doch zu, auf wen es richte die Pfeile.
Immerhin necke getrost der muntre Spötter den Gleichen,
Welcher die beißenden Worte gewandt und schnell ihm zurückgibt;
Aber kränkender ist und schmerzlich jenem des Witzes
Leichtverwundender Scherz, der unerfahren und schüchtern
Nicht den fröhlichen Spott beherzt zu erwidern geübt ist.
– Keine Beschreibung mehr, sondern Erklärung. Die Vers müssen auf Sinnlichkeit verzichten, was den Hexameter immer beeinträchtigt in seiner Wirkung. Aber auch hier bewegt sich der Vers gut, ein wenig gezwungen vielleicht, aber nicht viel?! Insgesamt ein nicht schlecht gemachtes, feines, kleines Epos!