Erzählformen: Das Distichon (21)

Selbstverständlich zu klingen ist nicht immer das Ziel der Dichter; und selbst da, wo es ihr Ziel ist, verfehlen sie es oft. Zwei Distichen, deren Selbstverständlichkeit ich immer wieder bewundere, stehen am Ende von Johann Wolfgang von Goethes „Euphrosyne“:

 

Also sprach sie, und noch bewegte der liebliche Mund sich,
Weiter zu reden; allein schwirrend versagte der Ton.
Denn aus dem Purpurgewölk, dem schwebenden, immer bewegten,
Trat der herrliche Gott, Hermes, gelassen hervor

 

 – Dabei sind einige Dinge gar nicht selbstverständlich, zum Beispiel die Nachstellung der Adjektive im dritten Vers; oder die Verwendung der hexametrischen Allerweltsformel „Also sprach sie“. Aber Goethe nutzt das alles, um die Verse sehr anziehend zu unterteilen mit Hilfe der Satz- und der Verseinschnitte; so dass ein rundes Ganzes entsteht.

Erzählformen: Der Zweiheber (11)

Vor den angekündigten „heutigen Beispielen“ noch ein kurzer Besuch bei Johann Wolfgang von Goethe anlässlich eines Buches, das ich sicher nicht einmal halb so gründlich gelesen habe, wie es das eigentlich verdient hätte – Daniel Alders „Epistemologie der Figur. Stimmlichkeit und poetologische Figuralität in der Lyrik um 1800“ (Königshausen & Neumann 2015). Darin wird Goethes berühmter „Gesang der Geister über den Wassern“ ausführlich betrachtet. Der Anfang:

 

Des Menschen Seele
Gleicht dem Wasser:
Vom Himmel kommt es,
Zum Himmel steigt es,
Und wieder nieder
Zur Erde muss es,
Ewig wechselnd.

Strömt von der hohen,
Steilen Felswand
Der reine Strahl,
Dann stäubt er lieblich
In Wolkenwellen
Zum glatten Fels,
Und leicht empfangen
Wallt er verschleiernd,
Leisrauschend
Zur Tiefe nieder.

 

Zum „Leisrauschend“, dem vorletzten Vers also, schreibt Alder auf Seite 187:

Das Adjektiv „leisrauschend“ kommt rhythmisch einer Unentscheidbarkeitsstellung gleich. Entweder man betont die erste Silbe und formt einen Daktylus: betont – unbetont – unbetont; oder man betont die zweite Silbe und formt einen Amphybrachis: unbetont – betont – unbetont. Die strenge, klare Artikulation macht einem leisen Rauschen zwischen zwei Möglichkeiten Platz.

Hm.

Vom Vers aus gedacht: Alle anderen Verse dieser beiden Abschnitte sind reimlose Zweiheber, in denen Goethe die beiden Hebungen deutlich besetzt hat, und die auch sonst als geschlossene Versräume erfahrbar werden. Ist es da wirklich sinnvoll, einen Einheber dazwischen zu haben, oder liest man das „Leisrauschend“ nicht doch besser als Zweiheber, bei dem die mittlere Senkungsstelle nicht besetzt ist?

(x) X (x) (x) X (x)

Daraus lassen sich alle Zweiheber Goethes ableiten, und „Leisrauschend“ ist dann ein „betont – betont – unbetont“, was die beiden Silben „leis-“ und „rausch-“ sicherlich hergeben bezüglich ihrer Schwere (Sinngehalt, Umfang, Vokallänge)?!

Hm!

Wer mag, kann sich den Text anhören, und vergleichen und entscheiden;  oft genug eingesprochen worden ist er ja … Zwei Beispiele:

Fritz Stavenhagen

Ulrich Mühe

Auch die Musiker hat dieser Text gereizt, auch da kann man nachdenken über die Art, wie sie ihn vertont haben, zum Beispiel:

Franz Schubert

Erzählverse: Der iambische Vierheber (7)

Im elften Band von Robert Walsers „Gesamtwerk“, „Gedichte und Dramolette“ (erschienen 1971 bei Kossodo), findet sich auf Seite 17 „Heimkehr I“:

 

An meinen Wangen brennt es heiß,
auf meiner Lippe bebt es noch,
weil ich mein Herz ihr übertrug
Zum Sprechen; alle Sprache war
voll Irrtum und Befangenheit,
ein Übermut, ein jäher Klang.
So war mein Sprechen, ach, dies zeigt
sich auf den roten Wangen noch,
die ich nach Hause trage jetzt.
Ich senke meinen Blick zum Schnee
und geh‘ vorbei an manchem Haus,
an mancher Hecke, manchem Baum,
der Schnee ziert Hecke, Baum und Haus.
Ich geh‘ vorbei, den Blick zum Schnee
gesenkt, an meiner Wange ist
nichts als erinnrungsheißes Rot,
mich mahnend an die wüste Sprach‘.

 

Ein Gedicht, das sich ganz auf die einfachen Wörter verlässt; und keine Scheu davor hat, sie sogar zu wiederholen, manche mehr als einmal! Trotzdem ist der Text wirksam, von Beginn an und weiter, bis er am Ende mit dem „erinnerungsheiß“ und dem abgeschnittenen „Sprach“ doch noch, ein wenig! zur Wörter-Gestaltung findet.

Der ungereimte iambische Vierheber trägt diese (scheinbare?!) Schmucklosigkeit überzeugend und hat so, finde ich, Teil an der Wirkung des Gedichts. Andere Verse wirkten auch anders – der Blankvers wäre zum Beispiel weniger spröde.

Erzählformen: Der Zweiheber (10)

Ein kurzes Gedicht, von Richard Dehmel, „Stimme des Abends“:

 

Die Flur will ruhn.
In Halmen, Zweigen
ein leises Neigen.
Dir ist, als hörst du
die Nebel steigen.
Du horchst – und nun:
dir wird, als störst du
mit deinen Schuhn
ihr Schweigen.

 

Eigenartig … Ich weiß nicht, ob das rein inhaltlich ein wirklich erwähnenswertes Gedicht ist; aber formal lohnt ein Blick schon! Der Eindruck von Geschlossenheit entsteht sicher durch die immer wieder aufgegriffenen Reime (wenn auch in ungeordneter Folge); aber auch durch die regelmäßigen Zweiheber der Art

x X x X (x)

Am Schluss folgt dann ein Einheber, also ein verkürzter Vers; was immer ein wirksames Mittel ist, einen Text nachdrücklich zu schließen!

Ein lohnender Vergleich ist Dehmels „Kein Bleiben“:

 

Immer dichter
flüchtet der Schnee.
Ich steh und seh
die Flocken treiben,
um Straßenlichter,
stumme Gesichter,
immer dichter.
Nur nicht bleiben:
weiter, weiter,
einsamer Schreiter!

 

Wieder eine ungeordnete, madrigalartige Reimordnung; hier ist aber auch der Zweiheber viel weniger regelmäßig! Mal stehen am Versanfang unbetonte Silben, mal fehlen sie; die mittlere Senkungsstelle ist mal mit einer, mal mit zwei unbetonten Silben besetzt; und auch der Versschluss ist mal betont, mal unbetont.

(x) X x (x) X (x)

Trotzdem macht der Text einen einheitlichen Eindruck? Das rührt sicherlich von der starken Wirkung der zwei Hebungen her. Noch unruhiger, und ohne Reim – ein Abschnitt aus Felx Dahns „Tannhäuser“:

 

Barst ihm der Kiel, –
Aus den schäumenden Wogen
Taucht, auf dem weißgrau
Mähnigen Seeross
Reitend, die Meerfrau,
Schwingt auf den Bug ihn
Und flicht in die Locken
Ihm rote Korallen und
Leuchtenden Bernstein
Als ihrer Behausungen
Gastgeschenk.

 

Wollte man ein Silbenbild geben, es müsste so aussehen:

(x) (x) X x (x) X (x) (x)

Alles dabei vom Dreisilber „Gastgeschenk“, „X x X“, bis hin zu den Siebensilbern „Aus den schäumenden Wogen“ (mit doppelt besetzter Senkung vorn, „x x X x x X x“) und „Als ihrer Behausungen“ (mit doppelt besetzter Senkung hinten, „x X x x X x x“)! Aber die beiden Hebungen genügen, die Verse als Einheit erfahrbar zu machen …

Auf diese Art, ungereimt und mit ständig wechselnden Füllungen der Senkungsstellen, wird der Zweiheber auch heute noch gebraucht; Beispiele folgen.

Bücher zum Vers (85)

Gerhard Grümmer: Spielformen der Poesie

Dieser 1985 bei Dausien erschienene Band ist nicht sonderlich umfangreich, er bringt es auf nicht mehr als 240 Seiten. Auf denen versammelt sich allerdings in neun Abschnitten (Buchstabenspiele, Silbenspiele, Reimspiele, Spiele mit der Wortstellung, Wortspiele, Rätselspiele, Versfigurenspiele, Versspiele, Formen der Scherz- und Nonsenspoesie) eine Fülle von Möglichkeiten, spielerisch mit Sprache und Dichtung umzugehen! Daher lohnt der Blick ins Buch hier sicher – irgendetwas Wissenswertes und Anregendes ist für jeden dabei.

Als kleines Beispiel die „Kakadudeklination“ (Seite 99, „grammatische Reime“):

O du alter Kakadu!
Stets gedenk ich Kakadeiner:
Ich misstraue Kakadir
Und verwünsche Kakadich.

Das Königreich von Sede (81)

Stiller Dämmer und das Schwarz der Stämme,
Weiter nichts. Im alten Wald geschehen
Dinge aug- und geistverhüllt, als hemme,
Grau, ein Nichtwort Sehen und Verstehen.

Schemel, der dies weiß, ist nicht verwundert,
Dass ein Baum, auf den er eben schaute,
Jung, zehn Fuß: Jetzt misst er an die hundert,
Dämmerschwarze. Narr, du greifst zur Laute?

Stimmst sie? Sendest Töne in die Stille,
Singst dazu, beschwingt, des Nichtwalds Lieder,
Dämmerbunte? Wald und Narr, ein Wille
Wirft im Sang empor sich; senkt sich wieder.

Erzählformen: Die Brunnen-Strophe (11)

Schaut man sich nach Beispielen für die Brunnenstrophe um, die in der zweiten Hälfte des 20. Jahrhunderts geschrieben worden sind, ist Peter Rühmkorf einer der ersten Verdächtigen. In „Gedichte“, erschienen 2000 bei Rowohlt, findet sich zum Beispiel auf Seite 225 „Das für Dritte unverständliche Lied“, dessen Anfang so klingt:

 

Oh nudeldicke Dirne,
da mir mein Glück missriet:
Ich nestle an der Stirne,
wo Kummer Fäden zieht.

Wenn Lieb wie Höllenhefe
den Busen schwellen macht;
mein Vogel an der Schläfe
kläfft in die schöne Nacht.

 

Metrisch streng umgesetzt!? Ab der dritten Strophe mischen sich dann vierhebige Verse in die Strophen, die dadurch nicht mehr als „Brunnenstrophen“ vernehmbar werden; aber die ersten beiden Strophen sind schöne, wirkungsstarke Verse, die die der Srophe eigene Bewegung sehr deutlich hörbar machen, mit der meist vorhandenen Zweiteilung und allem.

(Der Herausgeber dieses ersten Bandes der Rühmkorf-Werkausgabe, Bernd Rauschenbach, weist in  den Anmerkungen darauf hin, dass „nudeldicke Dirne“ ein Zitat ist aus dem Volkslied „Spannenlanger Hansel“.)

Es gibt noch andere Beispiele für die Verwendung der „Brunnenstrophe“ unter Rühmkorfs Gedichten, die alle hörens- und bedenkenswert sind! Wer Gelegenheit hat …