Archiv für den Monat Februar 2016
Erzählverse: Der Hexameter (130)
Heute bin ich wieder einmal hierüber gestolpert: Nachrichten aus der ideologischen Antike
Das kann man sich durchaus ganz ansehen, in Hinblick auf den Hexameter ist der Ausschnitt von 1:46:14 bis 2:07:47 das Entscheidene – Alexander Kluge und Durs Grünbein unterhalten sich über Bertolt Brechts Hexameter-Versifizierung des „Kommunistischen Manifests“. Und auch wenn da einiges gesagt wird, was mir ein wenig eigenartig klingt, und auch wenn ich die Art, wie mancher Vers vorgetragen wird, nicht wirklich nachvollziehen kann: Das lohnt sich schon!
Der Anfang des Manifests ist übrigens durchaus ein Vers, nur kein Hexameter, sondern ein Paroemiacus: Ein Gespenst geht um in Europa, ◡ ◡ — — — ◡ ◡ — ◡.
Das war sicher keine Absicht, hätte aber Absicht sein können; denn Karl Marx hat selbst Verse geschrieben, und keine ganz üblen!
Ohne Titel
Heimliche Finger
Zupfen den Schornstein,
Puppenhaus, deinen!
Schornstein vom Dach dir,
Drücken den Schornstein
Fest auf des Sofas
Schwellendes Polster;
Friedlich entkringeln
Kringel von Rauch sich
– Aufwärts, ihr Kringel! –
Wieder dem Schornstein,
Lange noch nährt sie,
Schwellend! das Polster.
Wortvergnügt (3)
Wie schon erwähnt: Um zu neuen Wörtern zu kommen, nehme man etwas altes, bekanntes und gebrauche es auf neue Weise. Das geschieht im Laufe der Sprachentwicklung auch un-willentlich immer wieder so; etwa wenn zu dem bekannten Ausdruck „sich satt essen“ ein entsprechendes „sich satt trinken“ gebildet wird, dann „sich satt sehen“, was sicher auch als gänzlich gewöhnlich empfunden wird; aber auch noch viele andere Verbindungen:
„Ich weiß nicht, was ich darum gäbe, wenn ich mich noch itzt alle Wochen einmal in Gesellschaft so vieler rechtschaffner Leute satt essen, satt lachen und satt zanken könnte.“
Ein Satz von Gotthold Ephraim Lessing. Mir am stärksten im Gedächtnis geblieben ist aber, was Matthias Claudius 1772 in seine Familienbibel geschrieben hat, nachdem sein erster, zwei Monate zu früh geborener Sohn kurz nach der Geburt gestorben war:
„Er lebte nur wenige Stunden und ging, nachdem er sich hier sattgeweint hatte, wieder heim.“
Was fängt man damit an? Außer, dass es einen Weg aufzeigt, zu leicht ungewöhnlichen, aber wirkungsvollen Ausdrücken zu gelangen, meine ich …
Erzählverse: Der trochäische Vierheber (50)
Das Symbol des Menschen
„Zeig mir“, sprach zu mir ein Dämon,
„zeig mir das Symbol des Menschen,
und ich will dich ziehen lassen.“
Ich darauf, mir meine schwarzen
Stiefel von den Zehen ziehend,
sprach: „Dies, Dämon, ist des Menschen
schauerlich Symbol; ein Fuß aus
grobem Leder, nicht Natur mehr,
doch auch noch nicht Geist geworden;
eine Wanderform vom Tierfuß
zu Merkurs geflügelter Sohle.“
Als ein Bildnis des Gelächters
stand ich da, ein neuer Heiliger.
Doch der Dämon, unbestimmbar
seufzend, bückte sich und schrieb mit
seinem Finger auf die Erde.
– Schreibt Christian Morgenstern. Seine trochäischen Vierheber haben immer einen besonderen Klang, und es lohnt sich sehr, nachzuprüfen, wie der zustande kommt; nicht nur durch zum Beispiel doppelt besetzte Senkungen, besonders auffällig am Versschluss („Heiliger“); sondern auch durch Gleichklänge, Wortwiederholungen, dem Verhältnis von Vers und Satz … „Ich darauf, mir meine schwarzen / Stiefel von den Zehen ziehend, / sprach:“ – höchst wirkunsgvoll!
Ohne Titel
Schneckengehäuse
Starren im Garten
Leer, und für immer:
Frühlingsbeginn
Wortvergnügt (2)
An Übersetzungen der Odyssee herrscht nun wahrlich kein Mangel; von daher lohnt vielleicht der Blick auf einige weitere Vers-Wiedergaben, die die in (1) begonnene Reihe „seufzerreich“ – „seufzererregend“ – „jammerbringend“ fortsetzen?!
Köchergehäus – drin staken gar viel der surrenden Schäfte
– So Rudolf Alexander Schröder. Nun ist die Frage, wie man die homerischen Beiwörter übersetzt, schon eine grundsätzliche; aber das „surrend“ wirkt ziemlich schwach, fast wie eine Verlegenheitslösung.
Der die vielen Geschosse enthielt, die Boten des Jammers.
Das ist nun Friedrich Georg Jünger, der das Beiwort ganz aufgibt und durch einen Zusatz ersetzt.
Samt dem Köcher mit Pfeilen, die Seufzer erregen, und viele
… waren darinnen. Anton Weiher geht noch einen Schritt weiter und landet beim Relativsatz. Warum nicht – auch das ist eine Möglichkeit, eine Eigenschaft auszudrücken; und immerhin sind so die Seufzer wieder da!
– So könnte das noch ein Weilchen weitergehen. Aber ich glaube, vieles ist auch durch diese sechs Beispiele schon klar geworden?! Einmal lohnt es sich immer, mehr als eine Möglichkeit zu versuchen, will man eine bestimmte Sache ausdrücken; vor allem im Vers! Da ist dann vom Einzelwort „seufzerreich“ bis zum vollständigen Satz „die Seufzer erregen“ alles dabei, und mal passt das eine, mal das andere.
„Seufzerreich“ ist dabei sicher die Möglichkeit, die den Text am meisten strafft, dem Vers die größtmögliche Festigkeit verleiht. Und es hat auch eine Eigenschaft, die zum Beispiel dem „seufzererregend“ abgeht; das könnte man in „Seufzer erregend“ auflösen, was sicher einen leicht anderen Ausdruck hat, aber zum Beispiel im Hexameter keinen Unterschied machte; wohingegen „seufzerreich“ nur in ein Präpositionalgefüge auflösbar ist, „an Seufzern reich“. Was dann wieder die Wahl zwischen Verknappung und Lockerung, Vereinzelung und Einbindung, Sinnlichkeit und Logik eröffnet … Möglichkeiten über Möglichkeiten!
Wobei die für den Vers nutzbringendste sicher das Zusammenziehen ist – der Schritt zum einzelnen, für sich wirkenden, überraschenden, schönen Wort.
Ohne Titel
ist wer daheim?
frag ich am weg
ins schneckenhaus.
dumpf hallts. dies haus
ist niemands heim –
ich nehms, geh weg,
komm an, beweg
handhin (ein haus),
handher (kein heim):
mein heimweghaus.
Wortvergnügt (1)
Wie kommt man zu Wörtern, die Verfasser wie Leser wortvergnügt zurücklassen?! Ich denke, auf den üblichen Wegen: Man sammelt sie in den Texten, die man liest, und verwendet sie anschließend (bei passender Gelegenheit); oder man stellt sie selber her.
In Bezug auf das erste Verfahren lohnt vielleicht ein Blick in Johann Georg Hamanns (der Onkel des gleichnamigen, aber ungleich berühmteren philosophischen Schriftstellers) Poetisches Lexikon, oder, wie der Titel weiter ausführt: Nützlicher und brauchbarer Vorrat von allerhand poetischen Redensarten, Beiwörtern, Beschreibungen, scharfsinnigen Gedanken und Ausdrückungen, nebst einer kurzen Erklärung der mythologischen Namen, aus den besten und neuesten deutschen Dichtern zusammengetragen, und der studierenden Jugend zum bequemen Gebrauch mit einer Anweisung zur reinen und wahren deutschen Dichtkunst ans Licht gestellt.
In der ersten Hälfte des achtzehnten Jahrhunderts geschrieben, und damit zu Zeiten, in denen das Dichten ein Handwerk war, war das der „studierenden Jugend“ wirklich ein „bequemer“ Helfer: zu alphabetisch geordneten Stichwörtern gibt es eine kurze Beschreibung, von Dichtern verwendete Redensarten – und eben Beiwörter, die zuvor von Dichtern in Zusammenhang mit diesem Stichwort benutzt worden waren! Zum Beispiel finden sich zu der aus der Odyssee bekannten Calypso diese Beiwörter:
Die schöne, holde, geschickte, beglückte, zufriedene, verliebte, entbrannte, verlassne, betrübte, anmutsvolle, seufzerreiche, unsterbliche.
Nun ja. Keine besonders beeindruckende Auswahl?! Aber eins ist doch dabei, das ein wenig aufhorchen lässt: seufzerreich.
Das ist, erst einmal, selten; und damit auffällig. „Tränenreich“, ganz genauso gebildet, ist viel bekannter, aber eben auch gewohnter!
Spürt man dem „seufzerreich“ ein wenig nach, landet man in der Tat auch in der Odyssee – am Anfang des 21. Gesangs zum Beispiel findet sich, in der Prosa-Übersetzung Wolfgang Schadewaldts, dieser Satz:
Dort lagen ihr die Kostbarkeiten des Herrschers: Erz und Gold und vielbearbeitetes Eisen, dort lag auch der zurückschnellende Bogen und der Köcher, der pfeilaufnehmende, und in ihm waren viele seufzerreiche Pfeile.
Spannend! Wobei die Übersetzer, die den homerischen Hexameter im Deutschen nachbilden wollten, hier tricksen mussten, denn in der Schlussformel des Verses, dem „X x x / X x“, ist eine doppelt besetzte Senkung Pflicht:
Pfeilgefüllt; drin waren viel seufzererregende Pfeile.
So übersetzte Roland Hampe. Noch anders, aber auch mit einem Partizip, das die benötigten unbetonten Silben herbeischafft, der Klassiker Johann Heinrich Voss:
Und der Köcher, gefüllt mit jammerbringenden Pfeilen.
Wogegen nichts zu sagen ist; aber den Reiz von „seufzerreich“ haben beide Beiwörter nicht! Womit ein erster Eintrag für eine Beiwörterkladde gefunden wäre … Und auch das Bilden eigener Wörter kann hier seinen Anfang nehmen, denn Zusammensetzungen mit „-reich“ lassen sich ohne Mühe bilden, als Abwandlung schon bestehender Begriffe oder ganz frei. Statt „die zahlreich versammelten Menschen“ eben „der Menschen kopfreiche Versammlung“; einfach versuchen, alles mögliche:
Winterszeit, in der Stadt: eine nasenreiche Erkältung.
Wobei es kein völliger Zufall ist, dass die Beiwörter hier und in den anderen beiden Hexametern auf der vierten und fünften Hebung zu stehen kommen. Aber davon: ein andermal.
Erzählverse: Der Hexameter (129)
Durch den Hexameter allein – wenn es auch nur der unsrige ist, nicht der römische und griechische, sondern eine unserer Sprache angemessene, mögliche Nachbildung, die den freien Geist nicht zu sehr beschränkt, und die Vorteile unserer Sprache auf andere Weise kund tut, durch Wahl, Stellung und Ordnung der Worte – ich sage, durch den Hexameter fast allein hat sich unsere Sprache erhoben und einen poetischen Vorteil über andere neuere Sprachen erlangt.
Diese hohe Meinung vom Hexameter hat Karl Ludwig Knebel geäußert in einem am 10. Mai 1820 an Karl August Böttiger geschriebenen Brief. Dabei war er gar kein Mann allzu einseitiger Urteile, wie eine Bemerkung von Karl August Varnhagen von Ense zeigt:
Er bestand festgläubig auf ein unwandelbar zu befolgendes In-Der-Mitte-Sein zwischen dem oft Ohrenzwang erregenden Hammerschlag einer durch Voß und sein Normalbuch über die Zeitmessung begründeten Schule und der aufgelöst hinschlotternden Zerflossenheit und Regellosigkeit unserer Hexametristenschar.
Dem kann zumindest ich mich nur anschließen: Wenn auch die strenge Nachbildung der antiken Verse ihren Reiz hat, wird sie dem Deutschen doch nicht immer gerecht; diese Herkunft des Hexameters nur als ungefähre Bezugsgröße zu nehmen und dann Verse zu bauen, die fast ausschließlich von eigenen Vorlieben bestimmt werden, ist aber wiederum zu beliebig.
Die Wahrheit liegt, wie immer: in der Mitte. Nun war Knebel kein großer Dichter, aber ich schieße trotzdem mit zwei Hexametern von ihm, die vom Bau her gelungen sind; und vom Inhalt her auch.
Gib, dass ich ohne Verblendung und Wahn, nicht frevelnd noch töricht,
Messe der Dinge Wert nach richtigem Maß und Verhältnis.
– Aus dem Fragment gebliebenen „Hymnus an den Geist der Natur“.