Schillers Sonette (2)

Eine der in (1) vorgestellten Strophe ziemlich ähnliche Strophe verwendet Friedrich Schiller in seinem 25 Strophen langen Erzählgedicht „Hero und Leander“:

X x / X x / X x / X x   a
X x / X x / X x / X x   a
X x / X x / X x / X      b

X x / X x / X x / X x   c
X x / X x / X x / X x   c
X x / X x / X x / X      b

X x / X x / X x / X x  
X x / X x / X x / X      d
X x / X x / X x / X x  
X x / X x / X x / X      d

Wieder ein kanzonengemäßes A-A-B; wieder bestehen die ersten sechs Verse aus einer auch sonst von Schiller benutzten Schweifreimstrophe (siehe zum Beispiel „Die deutsche Muse“), wieder besteht der B-Teil aus einer vierzeiligen, diesmal allerdings halbgereimten Strophe, die Schiller genau so etwa im „Punschlied. Im Norden zu singen“ verwendet hat. Das Vermaß ist aber diesmal nicht der trochäische Fünfheber, sondern der deutlich geschlossenere trochäische Vierheber!

Die Aufteilung des Inhalts auf die drei Teile des A-A-B ist immer durchgeführt:

 

Und so flohen dreißig Sonnen
Schnell, im Raub verstohlner Wonnen,
Dem beglückten Paar dahin,
Wie der Brautnacht süße Freuden,
Die die Götter selbst beneiden,
Ewig jung und ewig grün.
Der hat nie das Glück gekostet,
Der die Frucht des Himmels nicht
Raubend an des Höllenflusses
Schauervollem Rande bricht.

 

Erst ein Vergleich, dessen erste Hälfte die ersten drei Verse füllt, während das zugehörige „Wie …“ die nächsten drei Verse in Anspruch nimmt; dann eine allgemeine Feststellung zum zuvor Ausgeführten. Aber da es sich um einen Erzähltext handelt, ist dieses Gerüst oft nicht ganz so deutlich vernehmbar:

 

Auf des Pontus weite Fläche
Legt sich Nacht, und Wetterbäche
Stürzen aus der Wolken Schoß;
Blitze zucken in den Lüften,
Und aus ihren Felsengrüften
Werden alle Stürme los,
Wühlen ungeheure Schlünde
In den weiten Wasserschlund;
Gähnend, wie ein Höllenrachen,
Öffnet sich des Meeres Grund.

 

Hier fluten die  Wassermassen auch über die inneren Grenzen der Strophe hinweg, deren 3-3-4 (oder, weil ja der Vierheber ganz ungezwungen in zwei Hälften zerfällt: deren 3-3-2-2, so dem 4-4-3-3 des Sonetts vergleichbar,) durch alle Aufregung hindurch trotzdem immer spürbar bleibt!

Ohne Titel

Im Freigehege rennt das Huhn
Im Kreis, wie es die Hühner tun,
Im Kreis, im Kreis nur rennt es.
Uns weist zum fernen Sehnsuchtsort,
Man kennt es nicht, ein Sehnsuchtswort
Den Weg, nein: Niemand kennt es.

Schillers Sonette (1)

Näme man den Titel dieses Eintrags wörtlich, bliebe nicht viel zu sagen, denn: Friedrich Schiller hat keine Sonette geschrieben. Aber andererseits ist ein Sonett auch nur ein Spezialfall der Kanzonenform, die vorliegt, wenn der Anfang des Gedichts noch einmal wiederholt wird, ehe sich daran ein in Metrum und Reim abgewandelter dritter Teil anschließt, der im allgemeinen länger als einer der ersten beiden Teile ist, aber kürzer als beide zusammen. Das gibt eine wunderbar ausgeglichene Form, und das Sonett ist in der Tat ein Beispiel dafür, wie schon sein Reimschema zeigt: abba – abba – cdecde (dass es sich eingebürgert hat, die letzten sechs Verse noch einmal durch eine Leerzeile in zwei Dreierblöcke zu trennen, ändert am eigentlichen Aufbau nichts!).

Sucht man bei Schiller nun nach solchen A-A-B-Stücken, also Gedichten in Kanzonenform, wird man sehr wohl fündig! „An die Freunde“ zum Beispiel hat fünf Strophen, von denen die letzte so lautet:

 

Größres mag sich anderswo begeben
Als bei uns in unserm kleinen Leben;
Neues – hat die Sonne nie gesehn.
Sehn wir doch das Große aller Zeiten
Auf den Brettern, die die Welt bedeuten,
Sinnvoll still an uns vorübergehn.
Alles wiederholt sich nur im Leben,
Ewig jung ist nur die Phantasie;
Was sich nie und nirgends hat begeben,
Das allein veraltet nie!

 

Im Silbenbild sieht die bei „An die Freunde“ verwendete Strophe so aus – die drei Teile sind der besseren Übersicht wegen durch eine Leerzeile getrennt:

X x / X x / X x / X x / X x   a
X x / X x / X x / X x / X x   a
X x / X x / X x / X x / X      b

X x / X x / X x / X x / X x   c
X x / X x / X x / X x / X x   c
X x / X x / X x / X x / X      b

X x / X x / X x / X x / X x   d
X x / X x / X x / X x / X      e
X x / X x / X x / X x / X x  d
X x / X x / X x / X               e

Ein A-A-B, wie es im Buche steht … Der Vers ist der fünfhebige Trochäus, im Schlussvers auf vier Hebungen verkürzt; der b-Reim verbindet die beiden A-Dreizeiler, der Kreuzreim mit gänzlich neuen Reimen und dem verkürzten Vers ist die Änderung in Metrum und Reim, die den B-Teil ausmacht; der ist länger als ein einzelner A-Teil, aber kürzer als beide A-Teile zusammen.

Das angegebene Reimschema ist dabei das der ersten vier Strophen, also der „Normalfall“; hier, in der fünften und letzten Strophe, nimmt Schiller allerdings den Anfangsreim (sogar, passend zum Inhalt von V7, mit den gleichen Reimwörtern!) im dritten Teil noch einmal auf, so dass ein aabccbadad entsteht!

Diese Strophe könnte auch gut für sich stehen, wie ein Sonett; es ist Gedankendichtung, die sich auch wie ein Sonett gliedert: In V1-V3 wird ein Gedanke vorgestellt, in V4-V6 ausgeführt, in V7-V10 eine aus ihm gewonnene Erkenntnis ausgesprochen.

Wer mag, kann es Schiller nachtun und seine eigene Kanzonenform basteln, sein eigenes Sonett, wenn man so will; die Bausteine dafür liegen in kürzeren Strophen bereit, auch Schiller hat sich da nichts eigentlich neues einfallen lassen; den schließenden Vierheber hat er zum Beispiel schon in jungen Jahren in der (elendig langen) Allegorie „Der Venuswagen“ gebraucht:

 

Die ihr in das Eis der Bonzenträne
Eures Herzens geile Flammen mummt,
Pharisäer mit des Janus Miene!
Tretet näher – und verstummt.

 

Die ersten sechs Verse sind eine Schweifreimstrophe,  die Schiller gleichfalls schon in seinen ersten, scheußlich pathetischen Gedichten benutzt hat – aus der „Trauerode“:

 

Auf des Menschen kaltem, starrem Rumpfe
Sterben seine wirbelnden Triumphe,
Röcheln all in ein Gewimmer aus –
Glück und Ruhm zerflattern auf dem Sarge,
Könige und Bettler, Feige, Starke
Ziehn hinunter in das Totenhaus.

 

Und zusammen, wie gesehen: Bilden diese kürzeren Strophen einen kanzonenartigen Zehnzeiler.  Also, einfach umsehen, den eigenen Vorlieben gemäß auswählen und zusammenstellen – und dann mit Inhalt füllen!

(Man kann aber auch, aus Spaß und Neugier, Schillers Strophe nutzen. Das Königreich von Sede (93) zum Beispiel tut das, und auch da  gibt es eine leichte Abwandlung bei den Reimen …)

Das Königreich von Sede (94)

Prinzessin Sofarosa kennt
Den Weg nicht länger, doch sie rennt,
So schnell sie kann, nach Westen:
Sie weiß den Tag im Rücken, spürt,
Wie sich ein Licht im Osten rührt,
Das will die Welt verpesten,
Und kommt und tut’s: Es frisst die Nacht
Und lässt die Stille schwinden …
Die müde Königstochter macht,
Zu suchen und zu finden
Den Schatten hinter Baum und Stein,
Nun Halt; bemerkt, erreicht ihn;
Sinkt hin und schläft gleich ein.

Erzählverse: Der Hexameter (149)

Verse prägen die Sprache durch die Anforderungen, die sie stellen. Verse mit doppelt besetzten Senkungen, wie es der Hexameter ist, schätzen das Partizip, weil es die Füllung derartiger Senkungen sehr erleichtert. Im Falle des Hexameters kommt noch das Vorbild der antiken Verse dazu – kein Wunder also, dass die deutschen Hexameter deutlich mehr Partizipien aufweisen als andere Verse! Nicht immer aber führt das zu so ungewöhnlichen Konstuktionen wie der am Ende von Johann Heinrich Voß‘ Idylle „Die Freigelassenen“:

 

Siehe, da brauet der Has‘ im weißlichen Dampf auf der Wiese,
Und feucht wehen am Abend die Herbstwind‘ über die Stoppel.
Du mit der luftigen Jacke Gekleideter, höre die Warnung;
Dass du dein Lied nicht singst wie der heisere Küster sein Amen!

 

„Du mit der luftigen Jacke Gekleideter“: Das kann man mögen oder kann es abscheulich finden – nicht zu leugnen ist, dass es besonders klingt und dabei dem Hexameter zugehöriger ist als jedem anderen Vers!

(Der „brauende Hase“ ist auch spannend – Der Online-Grimm sagt, indem er unter anderem auf Voß‘ Vers verweist:

Bis auf heute hat sich, in mannigfaltem Ausdruck, eine sicher uralte Bezeichnung des Berg oder Wiese drückenden, niedrigen Nebels erhalten, wobei „Brauen“ für „Kochen“ gesetzt wird, ohne allen Bezug auf Bierbereitung – das Volk sagt: „die Wichtel, die Zwerge, die Unterirdischen brauen“, wenn diese Dünste gleichsam aus ihrer Küche emporsteigen. Ebenso, im Sinne der Tierfabel, „der Fuchs braut“, „der Hase hat gebraut“.

Aber der alte Adelung meint zu wissen:

Wenn sich ein gewisser dicker Nebel nahe an der Oberfläche der Erde erhebt, so sagen die Niedersachsen: „der Hase braut“. Man hüte sich, diesen Ausdruck für eine figürliche Redensart zu halten. „Hase“, engl. „Haze“, ist ein dicker Nebel, vielleicht von „har, hase, grau“; „brauen“ aber steht hier intransitiv, für „aufsteigen“, „sich wie ein siedendes Wasser erheben“. Es bedeutet also diese Redensart, die dem ersten Anscheine nach sinnlos ist, eigentlich so viel wie „es steigt ein dicker Nebel auf“.

Da müsste man noch einmal schauen …)

Grabspruch

Putzvergnügt deine Zunge; dein Fell wie die Felle der Andern
Pflegte sie, Luzie, doch jetzt ruht sie: im sechzehnten Jahr.

Erzählformen: Der Zweiheber (26)

Die Entscheidung für eine bestimmte Form begründet sich auch im Inhalt, der dargestellt werden soll. Der „Ehestand der Freude“, laut Brentanos und von Arnims „Des Kaben Wunderhorn“ von Seladon Greflinger, beginnt mit dieser Strophe:

 

Lasset uns scherzen,
Blühende Herzen,
Lasset uns lieben
Ohne verschieben,
Lauten und Geigen
Sollen nicht schweigen,
Kommet zum Tanze,
Pflücket vom Kranze!

 

Die Paarreime lassen die sehr kurzen Verse schon schlicht wirken, fröhlich auch; das wird zusätzlich verstärkt durch die Versbewegung, das „X x x X x“ (in Bezug auf die antiken Verse auch als „Adoneus“ bekannt) ist eben bei aller Kürze doch eine nachdrückliche und wiederkennbare Bewegung, die sich sehr gut für leichte, schnelle, heitere Inhalte eignet!

Erzählformen: Das Distichon (33)

Ein für die Art, in der Friedrich Schiller das Distichon aufgefasst hat, kennzeichnendes Epigramm:

 

Erwartung und Erfüllung

In den Ozean schifft mit tausend Masten der Jüngling,
Still, auf gerettetem Boot, treibt in den Hafen der Greis.

 

– Was die Überschrift verspricht, erfüllt das Verspaar: Hexa- und Pentameter sind inhaltlich strikt getrennt und nutzen die im Distichon angelegte Möglichkeit zur Antithese voll aus; auch der Pentameter zerfällt deutlich vernehmbar in zwei Hälften.

Gegensätzlich in Bezug auf den Bau der Verse aber auch das „In den“ – zu Beginn des Hexameters steht das „In“ auf der Hebung eines noch dazu zweisilbigen Versfußes, „In den“, wo es sich als sinnarme Silbe von geringem Umfang (wenig Konsonanten, kurzer Vokal) hörbar unwohl fühlt (auch wenn das so machbar ist!); im Inneren des Pentameters kommt das „in den“ als Senkung eines dreisilbigen Fußes vor, „treibt in den“, und dem Ohr bleibt nicht verborgen, dass es für diese Aufgabe wesentlich besser geeignet ist …