Erzählverse: Der Hexameter (153)

Die Grundform des Hexameters, in der alle Versfüße bis auf den letzten dreisilbig sind (also schwer – leicht – leicht), ist vergleichsweise selten. Das leuchtet ein: Ein metrisch geregelter Vers lebt auch von dem Wechselspiel zwischen Wiederholung und Abwandlung, und wird die Grundform, die sonst als Vergleichsgröße im Hintergrund mitschwingt, voll verwirklicht, fällt die Abwandlung weg, und die Wiederholung herrscht! Weswegen ein solcher Vers selbstverständlich möglich ist, mehrere davon hintereinander aber selten vorkommen.

 

Morgen, verschlafener Morgen, wie lange noch denkst du zu schlafen?

 

Ein Vers im unverwechselbaren Ton Friedrich Rückerts, der hier die Grundform verwirklicht:

— ◡ ◡ / — ◡ ◡ / — ◡ || ◡ / — ◡ ◡ / — ◡ ◡ / — ◡

Ein schöner Vers, der durch seine Gliederung der Eintönigkeit des Metrums entgegenwirkt. Zwei derartige Verse hintereinander klingen so:

 

Mich mit den Frohen zu freuen, zu schauen den herbstlichen Jubel
Bin ich herauf von den Hütten der gastlichen Freundschaft gestiegen.

 

– So Friedrich Hölderlin in seinem frühen Werk „Die Teck“, das noch wenig von der Sprachgewalt der späten Hexameter Hölderlins zeigt; und auch diese beiden Verse sind nicht schlecht, aber im Verbund doch ein wenig zu schnell, zu flüchtig?!

 

Aber ein lockenumkräuselter Knab‘, wie der lachende Amor,
Thanatos, scheinst du mir hier, in dem flimmerndem Schutte Pompejis,
Spielend mit goldigem Staub und mit Scherben zerbrochener Vasen.

 

Drei solcher Verse, zu finden in „Euphorion“, geschrieben von Ferdinand Gregorovius. Der Eindruck von eintöniger Flüchtigkeit hat sich sehr verstärkt, und es wunderte nicht, verlöre der Text die Aufmerksamkeit des Lesers / Hörers, ginge das über noch längere Strecken so!

Aber, wie gesagt: Ein einzelner derartiger Vers ist üblich und in seinem Verzicht auf die Abwechslung – auch selbst eine Art von Abwechslung.

Erzählformen: Das Madrigal (27)

Ein kurzer Text von Friedrich Rückert, nur eine kleine Beobachtung, festgehalten in seinem Liedertagebuch für 1850:

 

Im harten Winter war ein Rosenstock erfroren;
Der Gärtner schnitt ihn knapp
Über der Wurzel ab;
Nun schlägt er kräftig aus und blüht wie neugeboren
Auf seinem eignen Grab.

 

– Die beiden Sechsheber bestimmen den Leseeindruck, das zwischen sie eingeschobene Dreiheber-Reimpaar V2/V3 wirkt wie ein weiterer, aber aufgeteilter Sechsheber, wobei diese Aufteilung genutzt wird, um die strenge Alternation mit einer versetzten Betonung am Anfang von V3 aufzulockern; ein schließender Dreiheber nutzt denselben Reim wie V2 und V3 und gibt dem Gedicht so Geschlossenheit.

Nach dem Lesen kann man auch den Eindruck einer vierzeiligen Strophe aus Sechs- und Dreihebern bekommen, die um den dritten Vers erweitert wurde; aber wie immer man das Textlein formal auffassen mag, die „madrigalische Mühelosigkeit“, die Rückert so erreicht, ist großartig!

Erzählverse: Der Blankvers (87)

An die Herzogin von Broglie

Ich blicke mit dem Herzen fern zurück
Zu einer Welt, der ich einst angehöret, –
Der Tod ist dagewesen. Gräber! Gräber!
Nur eine – du – wie aber dir zu nahen,
Und wie dich nennen? – Herrin? – Gnäd’ge Frau? –
Du stehst vor meinen Augen noch das Kind.
Und, Albertine!, würfest du den Blick
Auf mich und sprächest: Wer ist dieser Alte,
Der so mich anstarrt, graue Locken schüttelt,
Und Tränen heimlich zu verschlucken scheint?
Ich kenn‘ ihn nicht. – –

 

– Ein erst postum veröffentlicher Text von Adelbert von Chamisso, der 16 Jahre älter war als die Angeredete – gestorben sind sie aber beide 1838 … Der Nominativ „noch das Kind“ statt „noch als Kind“ war damals durchaus üblich. Insgesamt ein eindrücklicher, trotz seines bedrückenden Gegenstands aber immer lebendig sich bewegender Text, wie man ihn von Chamisso gewohnt ist!

Erzählformen: Das Distichon (44)

Richard Leander (eigentlich: Richard von Volkmann) ist eher mit Märchen bekannt geworden – seine Sammlung hat den hübschen Titel “ Träumereien an Französischen Kaminen“; aber eine grundlegende Feststellung in Distichon-Form zu gießen, war ihm gleichfalls ein Leichtes:

 

Dann nur rührt uns die Kunst, und die Nachwelt beugt sich dem Künstler,
Wenn aus der menschlichen Form leuchtet der göttliche Geist.

 

Wobei sich die Welt nicht unbedingt „beugen“ muss; den Künstler nicht zu vergessen wäre schon viel.

Bücher zum Vers (96)

Gunter E. Grimm. Zwischentöne. Stationen der deutschen Lyrik.

Erschienen 2015 bei Tectum versammelt dieser Band eine große Bandbreite von Themen. Mir hatten es dabei Kapitel wie „Mühen der Metrik – Klassische Odendichtung“ oder „Nichts darf den Weisen binden – Odendichtung im Zeichen Anakreons“ angetan; wer mag kann sich aber auch in Texte über Alfred Andersch, Franz Josef Degenhardt oder Hans Magnus Enzensberger versenken. Lesbar sind sie alle, allemal, wenn auch häufig von eher einführendem Wesen und weniger in die Tiefe gehend.

Obiger „Weise“ stammt ürbigens aus der „Landlust“ von Friedrich Hagedorn, einem neunstrophigen Gedicht, das so anhebt …

 

Geschäfte, Zwang und Grillen,
Entweiht nicht diese Trift:
Ich finde hier im Stillen
Des Unmuts Gegengift.
Ihr Schwätzer, die ich meide,
Vergesst mir nachzuziehn:
Verfehlt den Sitz der Freude,
Verfehlt der Felder Grün.

 

… und so, mit dem die Kapitelüberschrift bildenden Zitat, ausklingt:

 

Nichts darf den Weisen binden,
Der alle Sinnen übt,
Die Anmut zu empfinden,
Die Land und Feld umgibt.
Ihm prangt die fette Weide
Und die betaute Flur:
Ihm grünet Lust und Freude,
Ihm malet die Natur.

Erzählformen: Das Distichon (43)

Karl Immermanns satirisch-humoristisches Versepos „Tulifäntchen“ ist ohne Frage ein Meisterwerk; seine anderen Verstexte fallen dagegen bemerkbar ab. Hier aber trotzdem einige Distichen aus „Reizende Weisheit“! Das ist ein Gespräch zwischen dem „Ich“ und „Rosalie“:

 

Gestern fragte sie mich: „Du bist so schweigsam, du küssest
Viel zu wenig, mein Freund – ward dir die Liebe zum Schmerz?“
„Teure“, sagt‘ ich, „die Liebe ist Lust und der ewigen Schönheit
Herrlichprangendes Kind, Knospe und Blüte und Frucht.
Sprich, was soll sie bei uns? Was soll das zarte Geheimnis
In der ernüchterten Zeit, in der entgötterten Welt?
Siehe, drum weinet aus mir die sich selber beweinende Liebe,
Eros weinet aus mir, der die Verbannung beklagt.“

 

Und noch ein gutes Stück so weiter, bis Rosalie dem Gejammere ein Ende setzt:

 

„Lieblich schauet die Rose der Lust aus der atmenden Lippe,
Pflücke sie, eh‘ sie verwelkt, küsse mich, grübelnder Freund!“

 

Wie ernst das gemeint war, als es geschrieben wurde, ist mir nicht ganz klar; heute wirkt es unausweichlich komisch … Aber, wie immer: Wenn etwas  entschlossen und unbeirrt durchgehalten und umgesetzt wird, gewinnt es Überzeugungskraft, sei es auch noch so albern oder sonstwie unpassend. Die gewählte Form, das Distichon, und die erkennbare Sicherheit in der Versgestaltung tragen dazu sicher bei!