Ohne Titel

Zeichen des Herbstes rot aus Bäumen wimpeln,
Rufen den längst schon ruhelosen Gimpeln
„Südwärts!“ zu, „südwärts!“, sehen diese steigen;
Freuen sich, schweigen.

Weit ist die Erde, weit des Himmels Bogen,
Frisch sind die Winde, die durch ihn gezogen,
Fern alle Ängste, die sie fortgetragen,
Stumm alle Fragen.

Tritt aus dem klaren, sonnig-stillen Wetter,
Aus dem verträumten Tanz der letzten Blätter
Lächelnd das Leben hin vor meine Seele:
Was ihr denn fehle.

Erzählverse: Der trochäische Fünfheber (19)

Gustav Freytags „Für Wanda“ ist ein Gegenstück zum in (18) vorgestellten „Serbischen Lied“ von Friedrich Bodenstedt:

 

Liebe runde Sonne, dich beschwör‘ ich,
Dich bejahrter Mond desselbengleichen,
Dich, du lust’ges kleines Sternenvolk,
Die ihr farblos, mühelos, unendlich,
In den ewig leuchtenden Gewändern
Über Wolken auf und nieder wandelt,
Sendet meiner jungen Freundin Wanda
Eure besten Strahlen in ihr Leben,
Helle Farbe, lustig bunte Mischung,
Reichlich etwas Gold und Purpur drunter,
Dass ihr stets an Antlitz und Gewande,
In den Augen und im warmen Herzen
Etwas von des Himmels Abglanz leuchte,
Uns zur Freude, euch zum Wohlgefallen.

 

– Soweit die erste Hälfte, aus der aber schon ein ganz anderes Verhältnis von Mensch und Himmelskörpern deutlich als bei Bodenstedt … Auch der Vers ist anders: bemerkbar formend, aber, dem Inhalt entsprechend, nirgends aufdringlich den Eindruck erweckend, er nähme sich zu ernst.

Erzählformen: Das Distichon (42)

Grabschrift auf Ahlemann (Ausschnitt)

Heiter war er und sanft, ein Liebling lächelnder Weisheit,
Hell wie der Mond sein Geist, warm wie die Sonne sein Herz.

 

Ahlemann war ein Consistorialrat und Kirchenprobst in Altona; Seine Grabschrift stammt von Friedrich Leopold Stolberg. Das daraus ausgewähle Distichon ist schlicht, hat aber nichtsdestotrotz einen schönen Fluss – und es erinnert an die Ursprünge des in Distichon-Form verfassten Epigramms, die wirkliche Auf-Schrift; zum Beispiel auf ein Grabmal.

Bücher zum Vers (95)

Emil Staiger: Grundbegriffe der Poetik.

Dieses vor 70 Jahren zum ersten Mal erschienene Buch erwies sich als sehr wirkungsstark in seiner Bestimmung und gegenseitigen Abgrenzung der zentralen Begriffe „Lyrik“, „Epik“, „Dramatik“. Parallel zum Bedeutungsverlust Staigers ist seit den 1960ern auch sein Buch etwas in Vergessen geraten; es liest sich aber auch heute noch sehr gut und hat vieles Nachdenkenswerte zu bieten.

Zum epischen Erzählen im Hexameter erklärt Staiger am Beispiel Homer:

„Das Gleichmaß (meint: des Hexameters) bedeutet den Gleichmut des Dichters, der keiner Stimmung verfällt, dem nicht bald so, bald wieder anders zumut ist. Homer steigt aus dem Strom des Daseins empor und steht befestigt, unbewegt den Dingen gegenüber. Er sieht sie von einem Standpunkt aus, in einer bestimmten Perspektive. Die Perspektive ist in der Rhythmik seiner Verse festgelegt und sichert ihm seine Identität, ein Stetiges in der Erscheinungen Flucht.“

Erschienen ist der Band zuletzt bei dtv.

Nicht dumm

Kluge Gedanken zu denken, ist Sache der Klugen? Wohl kaum, denn
Ist ein Gedanke klug, kümmert’s ihn nicht, wer ihn denkt!

Prosa & Vers

Zwei Zitate von Johann Wolfgang von Goethe, ein kurzer Eintrag aus „Maximen & Reflexionen“ …

 

Dieser schnelle Wechsel von Ernst und Scherz, von Anteil und Gleichgültigkeit, von Leid und Freude soll in dem irländischem Charakter liegen.

 

… und vier (berühmte) Hexameter aus „Die Metamorphose der Tiere“:

 

Dieser schöne Begriff von Macht und Schranken, von Willkür
Und Gesetz, von Freiheit und Maß, von beweglicher Ordnung,
Vorzug und Mangel erfreue dich hoch; die heilige Muse
Bringt harmonisch ihn dir, mit sanftem Zwange belehrend.

 

– Die Ähnlichkeit im Aufbau lädt unwiderstehlich zu einem Vergleich zwischen Prosa und Gedicht ein: Wie bewegt sich der „freie Satz“ Goethes, wie sein „gebundener Vers“?!

Erzählverse: Der trochäische Fünfheber (18)

In seinem Band „Aus der Heimat und Fremde“ hat Friedrich Bodenstedt in dem Abschnitt „Volksweisen als Intermezzo“ auch ein „Serbisches Lied“:

 

Sich verglich das Mädchen mit der Sonne:
Helle Sonne, ich bin schöner als du,
Schöner als du selbst und als dein Bruder,
Als dein Bruder auch, der Mond, der klare,
Als die Sterne alle, deine Schwestern,
Die da wandeln übern blauen Himmel
Einem Hirten gleich mit weißen Schafen.
Helle Sonne hub an Gott zu klagen:
Gott, was tun mit dem verwünschten Mädchen?
Aber still entgegnet Gott der Sonne:
Helle Sonne du, mein Kind, mein liebes,
Bleibe ruhig, lass dich nicht erzürnen,
Leicht ist’s uns mit dem verwünschten Mädchen:
Glänze heißer du, verseng‘ ihr Antlitz!
Aber ich, ich werd‘ ihr Unglück schicken,
Werd‘ ihr Unglück schicken, schlimme Schwäger,
Eine böse alte Schwiegermutter!
Fühlen soll sie, wem sie sich verglichen!

 

Auch inhaltlich für eine gehobene Augenbraue gut, finde ich; bemwekenswerter aber die vielen Wiederholungen, die man eigentlich eher beim „kleinen Bruder“, dem ungereimten, gereihten trochäischen Vierheber antrifft?! Aber sie tun auch hier, im fünfhebigen Rahmen, ihre Wirkung!

Herbst-Cento

Klar leuchtet der Mond und so eigen und still, hoch, höher am Rande der Hügel;
Was wäre zu tun in der herbstlichen Nacht mit der Ahnung des eigenen Todes?
Ich sah der Natur in den schaffenden Bauch und beschwor ihn bei Himmel und Erde –
Was es heißt, wenn sich Trauer im Hirnstrom zeigt, geht quer durch mein Hirn bis zum Herzen …

 

 

 

Die Verfasser (denen mein Dank und meine Anerkennung gilt):

Gerhart Hauptmann | Adolf Friedrich von Schack
Johann Wolfgang von Goethe | Ferdinand von Saar
Heinrich Heine | Theodor Körner
Durs Grünbein | Christine Lavant

Bücher zum Vers (94)

Friedrich Schlegel: Literarische Notizen 1797 – 1801.

In diesem 1980 bei Ullstein erschienenen Band hat Herausgeber Hans Eichner alles versammelt, was sich in Schlegels Notitzbüchern dieser Jahre zu den Fragen der Literatur findet; oft nur einige Worte oder sogar einige Abkürzungen umfassende Einträge. Das liest sich durchaus spannend, und zwischen vielen der scheinbar zufälligen Gedanken lassen sich weiterführende Verbindungen knüpfen.

2037 Durch und während des Reimens soll man d i c h t e n – organisch Poesie erzeugen.

1963 In romantischen Silbenmaßen soll man gleich vollendet dichten. Ändern kann man nur in Elegien, in antikem Maß.

1824 Es liegt eine unendliche Dualität im Sonett – immer wieder von neuem. Eben darum eignet sich das Sonett zum mystischen Gedanken, zum Gebet.

1820 Die einzige gültige Beglaubigung eines Priesters ist die, dass er Poesie redet.

– Zwei „Gedanken-Paare“ zu den Fragen von Vers und Form. Der letzte ist dabei schon Übergang in die Notizen eher allgemeiner Natur:

1513 Die Verzweiflung ist die Mutter der Tiefe.

Aber es lässt sich zu sehr vielen Dingen nachdenkenswertes finden; eine Fundgrube besonderer Art.