Erzählformen: Das Reimpaar (39)

Detlev von Liliencrons „Für und Für“ bietet inhaltlich solide Kost; bezogen auf die Form wird deutlich, wie wichtig die Geschlossenheit des Reimverspaares ist, soll es als Strophe, als wiederholte Grundeinheit eines Gedichts erfahrbar werden.

 

Im ersten matten Dämmer thront
Der blasse, klare Morgenmond.

Den Himmel färbt ein kühles Blau,
Der Wind knipst Perlen ab vom Tau.

Der Friede zittert: ungestüm
Reckt sich der Tag, das Ungetüm,

Und schüttelt sich und brüllt und beißt
Und zeigt uns so, was leben heißt.

Die Sonne hat den Lauf vollbracht,
Und Abendröte, Mitternacht.

Im ersten matten Dämmer thront
Der blasse, klare Morgenmond.

Und langsam frisst und frisst die Zeit
Und frisst sich durch die Ewigkeit.

 

Nur einmal, vom dritten ins vierte Verspaar, ein mäßig heftiger Zeilensprung, allerdings an der bewegtesten Stelle des Textes; sonst gilt: eine Betrachtung, ein Geschehen füllt immer genau ein Verspaar.

Erzählverse: Der Blankvers (128)

Im Sommer 1876 schrieb Ferdinand von Saar einen „Nachruf“, ohne zu erwähnen, wer denn da gestorben war. Denn, so hebt das Gedicht erklärend an:

 

Ich nenn‘ dich nicht. Wozu auch? Wer dich kannte,
Der weiß, wem diese Trauerrhythmen gelten –
Und wer dich nicht gekannt, wem bloß dein Name
Entgegenklang im wirren Lärm des Tages,
Dem sei genug das ernste Dichterwort:
Dass du ein edler, seltner Mensch gewesen.

 

Nun gut: Dichter, die verlangen, dass man ihnen glaube, weil sie doch Dichter sind. Das hat man schon einmal gehört … Aber eine eigenartige Idee trotzdem, und selbstredend eine, die umzusetzen dem Blankvers keinerlei Mühe macht.

Das Königreich von Sede (113)

Am stillen Graben, abends spät, als letztes Licht
Noch auf den Dingen ruht und ahnt,
Es muss bald schwinden, schaut des Königs alter Narr,
Schaut Schemel, und er blinzelt nicht,
Auf einen Frosch am Ufer, blinzelt nicht, den Sprung
Ins Wasser, den er kommen weiß,
Nicht zu verpassen, doch geschwunden ist das Licht,
Nichts sieht der Narr, sieht nichts und hört
Stattdessen, wie der Frosch, gesprungen muss er sein,
Ins Wasser klatscht; und weiß die Nacht.

Erzählverse: Der Blankvers (127)

„Michelangelo“ von Hugo Salus ist kein ganz schlechter Text, aber er überzeugt auch nicht völlig:

 

Vor einem Marmorblock in tiefer Nacht
Senkt Michelangelo die müde Hand,
Die göttliche, die Leben wecken kann,
Und die der Hammer heut zu Boden zieht.
Er wirft den Meißel fort, er senkt die Stirn;
Er seufzt; ihn fröstelt, denn die Nacht ist kalt.
„Kalt wie mein greises Herz, kalt, kalt und leer!“
Er blickt um sich. Die Steine höhnen: „Schutt!
Was war dein Leben? Plag und Meißelschlag,
Und keine Sonne lachte deinem Weg.
Was starrst du, wie ein Nachtgespenst, auf uns?
So lache doch! Wie hell lacht Raffael,
Der Sonne ist und Licht und Glück und Leben!“
Und Angelo stöhnt auf: „Weh, Raffael!
Weh, Raffael, der mich den Neid gelehrt,
Den Bettlerneid vor Krösus üppiger Schwelle!
Du großer Michelangelo, so klein,
So niedrig, so verzerrt von Neid! Weh dir,
Dass du so groß bist, um so klein zu sein!
Wie stahlst du dich noch gestern, neidgehetzt,
Aus Raffaels Garten! Bäume, Blumen, Frauen,
Die Männer rings, der Papst, wer sträubte sich
Und neigte sich nicht vor dem Göttlichen?
Er nahm es hin, als freudigen Tribut,
Und dankte kaum und senkte nur das Haupt
Vor Einem in der Runde, nur vor dir!
Da, weißt du’s? stieg der Neid dir auf im Herzen,
Die Eifersucht, der finstre Groll, die Scham,
Ohnmächtiger Neid! und knirschend schlichst du fort!
Pfui, Michelangelo!“ – Der Meister bebt;
Er löscht das Licht. Er brütet in die Nacht.
„Nein“, fährt er auf, „so niedrig bin ich nicht!
Dass doch der Morgen tagte! Raffael,
Zu deinen Füßen will ich Mitleid flehen:
Du bist der Sieger!“ Schritte, leise Stimmen.
Die Türe weicht. – „Was willst du noch, Antonio?
Was schläfst du nicht?“ „O Herr, wer schliefe heut?
Seid stark! Beherrscht euch! Hört das Furchtbare:
Sitzt nieder. Fasst euch! Raffael ist tot!“

 

Mir zumindest kommt es vor, als liefe das Gedicht ein kleinwenig leer. Hm. Vielleicht lohnt ja ein Vergleich mit dem schon vorgestellten Michelangelo-Gedicht Conrad Ferdinand Meyers, Il Pensieroso?!

März-Ritornell

Blauender Himmel,
Du wähnst dich schön, doch leidest ernsten Mangel:
Des Eismanns sommerfrohes Kommt!-Gebimmel.

Der andere Ton

Beim Namen „Johann Heinrich Voß“ denken die meisten an die Homerübersetzungen von Voß, und dann an metrische Wunderlichkeiten und sprachliche Wagnisse, die er im Versuch einer immer genaueren Übersetzung einzugehen bereit war. Das ist ja auch so; aber der ganze Voß ist es eben nicht, wie zum Beispiel „Die Spinnerin“ zeigt:

 

Ich armes Mädchen!
Mein Spinnerädchen
Will gar nicht gehn,
Seitdem der Fremde
In weißem Hemde
Uns half beim Weizenmähn!

Denn bald so sinnig,
Bald schlotternd spinn ich
In wildem Trab,
Bald schnurrt das Rädchen,
Bald läuft das Fädchen
Vom vollen Rocken ab.

Noch denk ich immer
Der Sense Schimmer,
Den blanken Hut,
Und wie wir beide
An gelber Weide
So sanft im Klee geruht.

 

Drei Schweifreimstrophen mit kurzen Versen, Zwei- und Dreiheber; und ein volksliedhaft-schlichter Ton, der so gar nicht an Homer und die Antike erinnert …

Eine Lesung

Ein Eintrag ohne Verse, dafür mit einem Bericht über die Lesung von Versen; verfasst hat ihn Theodor Fontane, zu finden ist er in seinen „Wanderungen durch die Mark Brandenburg“.

Wir waren alles in allem acht Personen: Major von Häseler und Frau, Herr von Hünecke und Frau, ein Fräulein Wißling (das Teefräulein der Gräfin Schwerin), dann Fräulein von Rohr selbst, Lepel und ich. Alles steht mir noch in voller Deutlichkeit vor Augen und auch das Gespräch ist mir, wenn nicht in seinem Wortlaute, so doch in seinem Inhalte noch so gegenwärtig, als ob es gestern geführt worden wäre. Man war sehr heiter, alles wohlwollend und die Verpflegung vorzüglich, namentlich auch der Tee, was man damals nicht von allen Berliner Teeabenden sagen konnte. Wir hatten zu Kaviar- und Sardellenbrötchen einen kalten Braten, einen Reh- oder Hammelrücken, den Trieplatz oder irgendein befreundetes Gut in Havelland oder Ruppin geliefert hatte. Zum Schluss kam dann „Götterspeise“, die ihrem Namen Ehre machte; sie bestand aus in Rum oder Kognak getränkten Biskuitscheiben, Himbeerkompott und Schlagsahne, welche dreifache Schicht sich dreimal wiederholte. Zum Schluss wurden Apfelsinen zurechtgemacht, aber während wir unter Andauer dieser harmlosen Beschäftigung bemüht waren, unser Gespräch, das sich meist um Theater und die mit den Häselers befreundete Familie Hülsen drehte, fortzusetzen, war es ganz ersichtlich, dass sich unserer liebenswürdigen Wirtin eine gewisse Unruhe bemächtigte, die von Minute zu Minute wuchs und sich namentlich auch in ihren auf die jedesmalige Frage nicht mehr recht passenden Antworten zu erkennen gab. Dabei sah sie immer eindringlicher nach der Stutzuhr ihr gegenüber, auf der ein goldener Saturn mit Urne lag, bis sie zuletzt die Konversation kurz abschnitt, indem sie kategorisch bemerkte: „Die Herren werden jetzt etwas lesen.“ Nun schwieg alles, während sie selbst unter einer kleinen Verbeugung fortfuhr: „Herr von Lepel und Herr Theodor Fontane wollen nämlich die Güte haben, uns eine von ihnen herrührende ‚Terzine‘ zu lesen.“ Ich wollte, weil ich glaubte, dass sich das Fräulein versprochen habe, die Sache richtigstellen, Lepel aber warf mir einen grotesk ernsten Blick zu, der mich verstummen machte, während das Fräulein unbefangen hinzusetzte: „Diese Strophen bilden nämlich eine Art Rede und Gegenrede, wie zwei Advokaten, von denen jeder seine Sache verteidigt. Wie lautet doch das Thema?“ Lepel, der bereits sein Manuskript aus der Tasche gezogen hatte, sagte: „Das Thema lautet: ‚Reden ist Silber, Schweigen ist Gold‘ und bildet eine Tenzone zwischen mir und meinem Freunde Fontane.“ Er betonte das Wort „Tenzone“, Fräulein von Rohr aber merkte nichts, denn Terzine oder Tenzone war ihr dasselbe. Sie hatte viele herrliche Gaben und Lyrik war ihr Ideal. Aber die Nomenklatur italienischer Formen und nun gar diese Formen selbst waren ihr ein Geheimnis geblieben.

Lepel und ich lasen nun unsere Tenzone. Dann trat die herkömmliche Verlegenheitspause ein. Der alte Häseler wribbelte an seinem Husarenschnurrbart, während seine Frau, älter als er und schon nahe an achtzig, ihren schwarzen Scheitel, der sich etwas verschoben hatte, wieder gerade rückte, dabei Lepel und mich verschmitzt ansehend, wie wenn sie sagen wollte: „Kinder, was soll das alles? Als ich jung war, waren ganz andere Dinge Mode.“ Sie stammte nämlich aus den Gräfin-Lichtenau-Tagen und hatte manches erlebt. Endlich nahm Herr von Hünecke das Wort: „Es muss schwer sein“, sagte er, worauf Frau von Hünecke fast einen Lachanfall kriegte und gutmütig hinzusetzte: „Ja, Hünecke, du könntest es nicht.“ Durch diesen Zwischenfall war das Eis gebrochen, und nun griff auch die alte Häseler ein und sagte: „Schwer. Ja was heißt schwer. Ich glaube nicht, dass es so sehr schwer ist, und Improvisieren zum Beispiel ist viel schwerer. Da war hier vor zwanzig Jahren ein Improvisator Langenschwarz, ein jüdischer, aber ziemlich distinguiert aussehender Mann, und hatten wir damals eine Matinee im Konzertsaal, es war das letzte Jahr unter des hochseligen Königs Majestät. Und das Thema war ‚Alexanders des Großen Tod‘ und jeder, der anwesend war, hatte das Recht, ihm ein Reimwort zuzurufen. Und da war ja nun dieser schreckliche Mensch, der Glasbrenner, das heißt,  eigentlich war er gar nicht so schrecklich und konnte nur, wenn er wollte, der rief Langenschwarzen, weil er eine Pike gegen ihn hatte, das Wort ‚Blutwurst‘ zu, so dass einige lachten, während wir andern alle zusammenschraken. Aber was denken Sie, was geschah? Ohne dass dieser Langenschwarz sich verfärbte, nahm er das furchtbare Wort in seine Dichtung auf und ich weiß auch noch, dass er mit ‚Glutdurst‘ darauf reimte, was damals jeder bewunderte, so dass Glasbrenner eigentlich geschlagen war, und wenn ich mir das alles vergegenwärtige – Hülsen war damals noch Leutnant und hatte die Plätze besorgt –, so muss ich doch sagen, das war schwerer.“ Lepel und ich stimmten vollkommen ein, Fräulein von Rohr aber fand diesen plötzlichen Einwurf in eine Debatte, die sich doch mit einer ernsten Dichtung zu beschäftigen habe, ziemlich unangemessen und sagte: „Frau von Häseler, ich muss Ihnen doch bemerken, dass ich das Gedicht der beiden Herren seit vorigem Sonntag abschriftlich besitze und dass ich es sowohl der Gräfin Schwerin wie dem Prinzen Georg vorgelegt habe, die beide von der besonderen Schwierigkeit sprachen. Es wird also wohl auch schwer sein. Der Prinz ist selbst Dichter, wie Sie wissen, und ein Mann von Urteil.“

Ich lasse die Gesellschaft hier allein; ziehe mich zurück und die Tür leise zu, sozusagen … (Wer die Tenzone nachlesen möchte, findet sie hier: Reden ist Silber, Schweigen ist Gold.)

Erzählformen: Das Distichon (113)

Hahn, du kikerikihst, und Tiktak gehts in der Scheune;
Hast du die Drescher geweckt, oder die Dreschenden dich?
Du mit deinem Gesang bist ihnen ein Sporn zur Arbeit,
Sie mit ihrem Geklapp dir ein verheißender Gruß:
Wenn von der Tenne sie nun zum Frühstück gehn in die Stube,
Kommst du mit deinem Gefolg, pickest das deinige dir.

 

Im Distichon bieten die Halbverse von Hexa- und Pentameter ebenso wie das Nacheinander der beiden Verse unzählige Möglichkeiten, Gegensätze wirksam Versgestalt gewinnen zu lassen, und in seinem Liedertagebuch aus dem Jahre 1855 bestreitet Friedrich Rückert dann auch die ganze kleine ländliche Szene, die er vorführt, mit nichts als solchen Gegensätzen ..