Ein Eintrag ohne Verse, dafür mit einem Bericht über die Lesung von Versen; verfasst hat ihn Theodor Fontane, zu finden ist er in seinen „Wanderungen durch die Mark Brandenburg“.
Wir waren alles in allem acht Personen: Major von Häseler und Frau, Herr von Hünecke und Frau, ein Fräulein Wißling (das Teefräulein der Gräfin Schwerin), dann Fräulein von Rohr selbst, Lepel und ich. Alles steht mir noch in voller Deutlichkeit vor Augen und auch das Gespräch ist mir, wenn nicht in seinem Wortlaute, so doch in seinem Inhalte noch so gegenwärtig, als ob es gestern geführt worden wäre. Man war sehr heiter, alles wohlwollend und die Verpflegung vorzüglich, namentlich auch der Tee, was man damals nicht von allen Berliner Teeabenden sagen konnte. Wir hatten zu Kaviar- und Sardellenbrötchen einen kalten Braten, einen Reh- oder Hammelrücken, den Trieplatz oder irgendein befreundetes Gut in Havelland oder Ruppin geliefert hatte. Zum Schluss kam dann „Götterspeise“, die ihrem Namen Ehre machte; sie bestand aus in Rum oder Kognak getränkten Biskuitscheiben, Himbeerkompott und Schlagsahne, welche dreifache Schicht sich dreimal wiederholte. Zum Schluss wurden Apfelsinen zurechtgemacht, aber während wir unter Andauer dieser harmlosen Beschäftigung bemüht waren, unser Gespräch, das sich meist um Theater und die mit den Häselers befreundete Familie Hülsen drehte, fortzusetzen, war es ganz ersichtlich, dass sich unserer liebenswürdigen Wirtin eine gewisse Unruhe bemächtigte, die von Minute zu Minute wuchs und sich namentlich auch in ihren auf die jedesmalige Frage nicht mehr recht passenden Antworten zu erkennen gab. Dabei sah sie immer eindringlicher nach der Stutzuhr ihr gegenüber, auf der ein goldener Saturn mit Urne lag, bis sie zuletzt die Konversation kurz abschnitt, indem sie kategorisch bemerkte: „Die Herren werden jetzt etwas lesen.“ Nun schwieg alles, während sie selbst unter einer kleinen Verbeugung fortfuhr: „Herr von Lepel und Herr Theodor Fontane wollen nämlich die Güte haben, uns eine von ihnen herrührende ‚Terzine‘ zu lesen.“ Ich wollte, weil ich glaubte, dass sich das Fräulein versprochen habe, die Sache richtigstellen, Lepel aber warf mir einen grotesk ernsten Blick zu, der mich verstummen machte, während das Fräulein unbefangen hinzusetzte: „Diese Strophen bilden nämlich eine Art Rede und Gegenrede, wie zwei Advokaten, von denen jeder seine Sache verteidigt. Wie lautet doch das Thema?“ Lepel, der bereits sein Manuskript aus der Tasche gezogen hatte, sagte: „Das Thema lautet: ‚Reden ist Silber, Schweigen ist Gold‘ und bildet eine Tenzone zwischen mir und meinem Freunde Fontane.“ Er betonte das Wort „Tenzone“, Fräulein von Rohr aber merkte nichts, denn Terzine oder Tenzone war ihr dasselbe. Sie hatte viele herrliche Gaben und Lyrik war ihr Ideal. Aber die Nomenklatur italienischer Formen und nun gar diese Formen selbst waren ihr ein Geheimnis geblieben.
Lepel und ich lasen nun unsere Tenzone. Dann trat die herkömmliche Verlegenheitspause ein. Der alte Häseler wribbelte an seinem Husarenschnurrbart, während seine Frau, älter als er und schon nahe an achtzig, ihren schwarzen Scheitel, der sich etwas verschoben hatte, wieder gerade rückte, dabei Lepel und mich verschmitzt ansehend, wie wenn sie sagen wollte: „Kinder, was soll das alles? Als ich jung war, waren ganz andere Dinge Mode.“ Sie stammte nämlich aus den Gräfin-Lichtenau-Tagen und hatte manches erlebt. Endlich nahm Herr von Hünecke das Wort: „Es muss schwer sein“, sagte er, worauf Frau von Hünecke fast einen Lachanfall kriegte und gutmütig hinzusetzte: „Ja, Hünecke, du könntest es nicht.“ Durch diesen Zwischenfall war das Eis gebrochen, und nun griff auch die alte Häseler ein und sagte: „Schwer. Ja was heißt schwer. Ich glaube nicht, dass es so sehr schwer ist, und Improvisieren zum Beispiel ist viel schwerer. Da war hier vor zwanzig Jahren ein Improvisator Langenschwarz, ein jüdischer, aber ziemlich distinguiert aussehender Mann, und hatten wir damals eine Matinee im Konzertsaal, es war das letzte Jahr unter des hochseligen Königs Majestät. Und das Thema war ‚Alexanders des Großen Tod‘ und jeder, der anwesend war, hatte das Recht, ihm ein Reimwort zuzurufen. Und da war ja nun dieser schreckliche Mensch, der Glasbrenner, das heißt, eigentlich war er gar nicht so schrecklich und konnte nur, wenn er wollte, der rief Langenschwarzen, weil er eine Pike gegen ihn hatte, das Wort ‚Blutwurst‘ zu, so dass einige lachten, während wir andern alle zusammenschraken. Aber was denken Sie, was geschah? Ohne dass dieser Langenschwarz sich verfärbte, nahm er das furchtbare Wort in seine Dichtung auf und ich weiß auch noch, dass er mit ‚Glutdurst‘ darauf reimte, was damals jeder bewunderte, so dass Glasbrenner eigentlich geschlagen war, und wenn ich mir das alles vergegenwärtige – Hülsen war damals noch Leutnant und hatte die Plätze besorgt –, so muss ich doch sagen, das war schwerer.“ Lepel und ich stimmten vollkommen ein, Fräulein von Rohr aber fand diesen plötzlichen Einwurf in eine Debatte, die sich doch mit einer ernsten Dichtung zu beschäftigen habe, ziemlich unangemessen und sagte: „Frau von Häseler, ich muss Ihnen doch bemerken, dass ich das Gedicht der beiden Herren seit vorigem Sonntag abschriftlich besitze und dass ich es sowohl der Gräfin Schwerin wie dem Prinzen Georg vorgelegt habe, die beide von der besonderen Schwierigkeit sprachen. Es wird also wohl auch schwer sein. Der Prinz ist selbst Dichter, wie Sie wissen, und ein Mann von Urteil.“
Ich lasse die Gesellschaft hier allein; ziehe mich zurück und die Tür leise zu, sozusagen … (Wer die Tenzone nachlesen möchte, findet sie hier: Reden ist Silber, Schweigen ist Gold.)