Ludwig Kosegartens Nachdichtung: Orpheus‘ Hymne an den Mond
Ich habe mich bisher nicht so richtig mit der „hexametrischen Hymne“ beschäftigt, aber seit ich rein zufällig bei Kosegarten darüber gestolpert bin, scheint mir, ich sollte das doch mal tun. Ein sicheres Anzeichen dafür ist, dass ich eine der bei Kosegarten gefundenen Hymnen auswendig gelernt habe beim Radfahren … Ich glaube, es ist eine recht freie Nachdichtung einer antiken Hymne – genauer nachgeschaut habe ich noch nicht, meine mich aber erinnern zu können, dass der Text doch anders lautet. Bei Kosegarten liest sich diese „Hymne an den Mond“ jedenfalls so:
Höre mich, Königin, Göttin, du freundliche Schöne des Himmels,
Luftdurchwandlerin, Dunkelerleuchterin, Sterneregentin,
Nimmer ermüdende Pilgerin, nimmer verlöschende Fackel,
Ewig neugeboren, und ewig alternd und sterbend,
Männliche, Fräuliche, Glänzende, Herrliche, Schimmergelockte,
Strahlenverspenderin, Rossetummlerin, Mutter der Zeiten,
Alles belauschende Wächterin, Tänzerin himmlischer Tänze,
Die du wandelst so gern im stillen traulichen Dunkel,
Die du leuchtest so gern, so gern erquickest und segnest,
Die du führst im Triumph der Sterne jauchzende Reigen,
Lichtumgürtet, umwallt vom weiten silbernen Mantel –
Komm, holdselige, komm in deiner Schöne, du Gute,
Und mit mildem Strahl erfreue den flehenden Waller.
Waller heißt wohl, wie früher häufiger, Wanderer?! Keine Frage, was mich da anzieht, ist die Lust an der Aufzählung, erst recht, wenn sie so abwechslungsreich gestaltet ist wie hier: Es ist immer eine Veränderung drin, ein Wechsel auf formaler oder inhaltlicher Ebene, so dass keine Langeweile aufkommt. Das ist keineswegs selbstverständlich, in einer anderen Nachdichtung – „Orpheus Hymne an die Natur“ – verliert Kosegarten jegliches Maß:
Starke, Gewaltige, Kühne, Erhabenste, Höchste der Kräfte,
Duftige, Liebliche, Labende, Freundliche, Künstliche, Weise,
Zeugerin, Hegerin, Pflegerin, Erzieherin, Wärterin, Amme,
Heldin, Huldin, Dichterin, Rednerin, Meisterin, Fürstin,
Da muss man doch schlucken (Huldin, laut Grimm: Eine anmutreiche Person. Gut für den Wortschatz sind diese Hymnen allemal). Was ich unbedingt nachschauen muss, ist, ob die Hexameter in diesen Hymnen anders gebaut sind als normale Hexameter. Denn es fällt ja schon auf, dass, je aufzählender der Vers wird, zum einen fast immer die metrischen Einheiten mit den Wortgrenzen zusammenfallen, was man sonst tunlichst vermeiden möchte, weil es sonst eintönig klingt; zum anderen sitzt auch die Zäsur, der Verseinschnitt ziemlich oft vor einer betonten Silbe, was ja eine der sieben Hexameter-Todsünden ist. Wobei die Zäsur natürlich ein wenig theoretisch ist, weil ja nicht sie den Vers gliedert, sondern die Aufzählung. Hm. Eben bin ich noch über eine andere Hymne gestolpert (wenn man erst einmal anfängt, darauf zu achten, sind sie überall!), Carl Phillipp Conz‘ „Hymne an das Licht“, die so anfängt:
Seliges, göttlich entsprossenes, heiliges, herrliches, Heil dir!
Heil, unerforschte, lebendige, Leben erzeugende Kraft, dir,
Und da kann man dann ja durchaus schon Methode vermuten! Andererseits entgleisen Conz seine nichthymnischen Hexameter des öfteren, und auch wenn Kosegarten den Vers halbwegs im Griff hat, ist er vor Ungeschicklichkeiten nie gefeit. Liegt es also daran, dass hier Dichter der dritten Garnitur am Werk sind? Hmja, vielleicht – vielleicht überschreiben aber auch einfach und ganz natürlich die Anfordernisse einer Aufzählung die eines erzählenden Verses. Den andersrum gilt ja auch: Je erzählender der Vers wird, desto enger folgt er wieder den „normalen“ Regeln. Da muss man dann eben von Vers zu Vers schauen … Hier etwa:
Zeugerin, Hegerin, Pflegerin, Erzieherin, Wärterin, Amme,
Da hat Kosegarten drei unbetonte Silben nacheinander – hat er gepennt, nicht aufgepasst? Oder das doch bewusst so gemacht, um die Einförmigkeit wenigstens ein klein wenig aufzulockern? Wer kann es sagen.