Der Ioniker ist ein von Friedrich Gottlieb Klopstock Mitte des 18. Jahrhunderts erfundener Vers. Klopstock hat die theoretischen Grundlagen dieses Verses ausführlich dargelegt und hatte wohl auch große Pläne mit ihm; am Ende hat er aber nur ein einziges Gedicht geschrieben, das diesen Vers benutzt. Danach ist dieser Vers nicht wieder verwendet worden – niemals nicht, von niemandem!
Und das aus gutem Grund: der Ioniker verlangt metrische Grundeinheiten, von denen die einen sagen, es gibt sie im Deutschen nicht, und die anderen, es gibt sie zwar, aber sie sind so beschwerlich zu beschaffen, dass die Mühe nicht lohnt!
Daher sollte sich mit diesem Vers vielleicht besser nur auseinandersetzen, wer Geduld und Leidensfähigkeit mitbringt; und über eine gewisse „metrische Sicherheit“ verfügt. Die Belohnung besteht dann in einem Vers, der sich sehr fremd und doch auch anziehend bewegt!
Der Ioniker besteht aus drei metrischen Grundeinheiten:
Erstens, dem „Ionicus a minore“. Dabei folgen auf zwei kurze, unbetonte (= leichte) Silben zwei lange, betonte (= schwere) Silben. Im Schema: v v — —. Laut Klopstock ist diese Einheit die wichtigste.
Zweitens, dem „Bacchius“: Einer leichten Silbe folgen zwei schwere, im Schema v — —.
Drittens, dem „Anapäst“: Zwei leichten Silben folgt eine schwere. Schema: v v —.
Insgesamt hat der Vers fünf Einheiten. Nun darf aber nicht in jeder Einheit jede der drei obengenannten Möglichkeiten stehen. Klopstocks Übersicht sieht so aus:
. 1 2 3 4 5
. | v v — — | v v — — | v v — — | v — v
v — — | v — — | v — — | v — — | v — —
v v — | v v — | v v —
Also, man sieht: In der ersten Einheit kann ein Bacchius stehen oder ein Anapäst, aber kein Ioniker. In der zweiten und dritten Einheit können alle drei Füße stehen.
Die vierte und die fünfte Einheit bilden die „Kadenz“; die sieht im Regelfall so aus, v v — — / v — v, oder so: v v — — / v — —
Selten, aber immer mal wieder besteht die vierte Einheit aus einem Bacchius, dann sieht die Kadenz so aus, v — — / v — v, oder so: v v — / v — —.
Das wirkt zwar erstmal verwirrend, aber man findet doch durch! Ein Gedicht in diesem Versmaß besteht aus beliebig vielen Versen diesen Aufbaus.
Wie gesagt, Klopstock hat nur wenige Verse in dieser Versart geschrieben, und nach ihm niemand sonst. Es hat also jeder die Möglichkeit, den Vers für sich zu erkunden und zu gestalten. Das macht auch Spaß! Und soooo seltsam sind diese „verdoppelten schweren Silben“ dann auch nicht, sie tauchen durchaus in normalen Texten auf!
Ich versuche mal einen richtigen Ioniker:
Ein Gedicht, das vom Hufschlag der Sinnsilben nicht auftönt, bewegt nicht.
Ein Gedicht, / das vom Huf–schlag / der Sinn–sil /-ben nicht auf–tönt, / bewegt nicht.
Was, wenn man das vollständige Schema bemüht, so aussieht:
. 1 2 3 4 5
. | v v — — | v v — — | v v — — | v — v
v — — | v — — | v — — | v — — | v — —
v v — | v v — | v v —
Aber ich denke, das ist auf Dauer nicht sehr übersichtlich; ich wechsle also doch auf die „Kurzform“:
v v — / v v — — / v — — / v v — — / v — v
Da ist eine besondere Bewegung erkennbar, oder?!
Klopstock hat noch zwei Anmerkungen zum Aufbau des Verses gemacht:
Einmal könne, in seltenen Ausnahmen, statt des Ionikus v v — — auch der dritte Päon v v — v stehen aufgrund der Ähnlichkeit dieser beiden Einheiten; allerdings nicht als vierte Einheit, um die Kadenz nicht zu schwächen; und die metrische Einheit muss in einem solchen Fall auch eine Sinneinheit sein.
Zum anderen sollten laut Klopstock ohnehin die metrischen Einheiten oft mit den Sinneinheiten übereinstimmen.
Ich gebe zum Schluss noch drei Verse, die Klopstock als Beispiele geschrieben hat. Stört euch nicht an dem für Klopstock typischen religiösen Inhalt – einfach nur auf die Bewegung achten, bitte!
O entfleuch zum Gebein, ins Gefild, wo die Schlacht schweigt, Erobrer,
Und ruf dort dir selbst, Würgen, Weh zu, dass des Herrn Zorn nicht donnernd
Dir aufsteh, du den Wehruf des Gerichts von dem Thron her nicht tot hörst.
Mit diesen drei Versen wollte Klostock zeigen:
– den schnellsten Vers dieser Versart:
O entfleuch / zum Gebein, / ins Gefild, / wo die Schlacht schweigt, / Erobrer,
v v — / v v — / v v — / v v — — / v — v
Die ersten drei Einheiten sind mit dem Anapäst besetzt, der ja nur eine schwere Silbe hat; dadurch wird der Vers schnell. Auch die Schluss-Silbe, die ja leicht oder schwer sein kann, ist leicht besetzt.
– den langsamsten Vers dieser Versart:
Und ruf dort / dir selbst, Wür– / gen, Weh zu, / dass des Herrn Zorn / nicht don–nernd
v — — / v — — / v — — / v v — — / v — —
Hier sind die ersten drei Einheiten mit Bacchius besetzt, der Vers wird langsam durch das Übermaß an schweren Silben. „Donnernd“ hat Klopstock wirklich als — — angegeben, was etwas seltsam ist. In diesem Vers stimmt an einer Stelle die metrische Gliederung nicht mit der Sinngliederung überein. Das ist aber der einzige Fall in allen drei Versen!
– den vielleicht schönsten Vers dieser Versart:
Dir auf–steh, / du den Weh–ruf / des Gerichts / von dem Thron her / nicht tot hörst.
v — — / v v — — / v v — / v v — — / v — —
„Schönste“ heißt hier natürlich, „schönste“ nach Klopstocks persönlichem Geschmack. Da muss jeder selbst schauen – mehr als ein Hinweis kann es nicht sein. Mir jedenfalls gefällt dieser dritte Vers sehr gut, von der Bewegung her!