Johann Wolfgang Goethes „Erste Epistel“
Jetzt, da jeglicher liest und viele Leser das Buch nur
Ungeduldig durchblättern und, selbst die Feder ergreifend,
Auf das Büchlein ein Buch mit seltner Fertigkeit pfropfen,
Soll auch ich, du willst es, mein Freund, dir über das Schreiben
Schreibend, die Menge vermehren und meine Meinung verkünden,
Dass auch andere wieder darüber meinen und immer
So ins Unendliche fort die schwankende Woge sich wälze.
So geht sie los, Goethes Ende 1794 geschriebene „Erste Epistel“. Es ist das erste Gedicht, das während der Zusammenarbeit mit Schiller geschrieben wurde, und es eröffnete das erste Heft von Schillers berühmter Zeitschrift, den „Horen“. Die auf sie folgenden Schillerschen Briefe „Über die ästhetische Erziehung des Menschen“ sind, wie man bei diesem Titel und bei ihrem Autor schon vermutet, nicht eben heiteren Tons; Goethe dagegen führt im Brief an seinen „Freund“ eine fröhlich-unbeschwerte Sprache. Er redet über die Möglichkeiten der Literatur, und so ganz kann er Schillers Glauben an die Erziehbarkeit des Menschen durch das Wort nicht teilen:
Reden schwanken so leicht herüber hinüber, wenn viele
Sprechen und jeder nur sich im eigenen Worte, sogar auch
Nur sich selbst im Worte vernimmt, das der andere sagte.
Mit den Büchern ist es nicht anders. Liest doch nur jeder
Aus dem Buch sich heraus, und ist er gewaltig, so liest er
In das Buch sich hinein, amalgamiert sich das Fremde.
Ganz vergebens strebst du daher, durch Schriften des Menschen
Schon entschiedenen Hang und seine Neigung zu wenden;
Aber bestärken kannst du ihn wohl in seiner Gesinnung
Oder, wär er noch neu, in dieses ihn tauchen und jenes.
Tscha. Aber schön ausgedrückt!
Ich mag Goethes Hexameters wirklich. Diese hier auch, obwohl sie nun nicht unbedingt das beste sind, was Goethe in dieser Versart geschrieben hat. Leicht und plaudernd (wie es sich für eine Epistel natürlich auch gehört ein Stück weit), und fast ganz frei von den griechischen Anklängen, die andere Verfasser so schätzten: Deutsche Hexameter im besten Sinne. Und sauber gebaut allemal. Nur manchmal sind die Verse etwas zu leicht, vor allem in der Mitte; aber na ja… Die schlussendliche Einschätzung etwa umfasst zwei Verse:
Sag‘ ich, wie ich es denke, so scheint durchaus mir, es bildet
Nur das Leben den Mann und wenig bedeuten die Worte.
Trägt im ersten Vers das „wie“ die zweite Betonung oder das „ich“? Metrisch schwer zu entscheiden… Ich bin für das „ich“, weil das erstens inhaltlich besser passt und ich, zweitens, im Zweifel immer für die (Neben-)Zäsur in der metrischen Einheit bin:
Sag‚ ich, wie / ich es / denke, || so / scheint durch- / aus mir, es / bildet
Das hat aber natürlich den Nachteil, dass „ich es“ nun wirklich eine sehr schlappe zweisilbige Einheit ist. Hm. Aber irgendetwas ist ja immer …