Die Bewegungsschule (27)

Zu den viersilbigen Bewegungseinheiten gibt es noch viel zu sagen, und zu den mehrsilbigen erst recht; aber ich möchte auch den Vers nicht in Vergessenheit geraten lassen, den das erste Dutzend Bewegungsschulen-Einträge entwickelt hat!

ta ta TAM ta ta TAM || ta ta TAM ta ta TAM

So sieht er bekanntlich aus – in der Grundform; davon ausgehend gab es verschiedene Möglichkeiten der Abwandlung, das Vertauschen zweier leichter mit einer schweren Silbe, das Erweitern zweier leichter Silben zu drei leichten Silben, das Vermindern zweier leichter Silben zu einer leichten Silbe, und schließlich: Das Verschieben der Zäsur um eine Silbe „nach hinten“. Dieses Verschieben lässt sich in dem folgenden Gedicht von Alfred von Berger sehr gut verfolgen. Es ist strophisch gebaut, und die Verse reimen sich; das entspricht ja nicht dem eigentlichen Gedanken! Aber: Durch den Reim wandert die Aufmerksamkeit hin zum Vers-Schluss, weg von den Bewegungsmöglichkeiten im Versinnern; und tatsächlich sind die zweisilbigen Senkungen durchgängig eingehalten und auch mit sehr leichten Silben besetzt („vor-wärts„, „durch-glüht“ ist schon das Höchstmaß an vorhandener Schwere!), die Versbewegung ist also sehr einheitlich. Die Verschiebung der Zäsur fällt da besonders ins Ohr!

 

Und ein Rätsel die Welt und ein Rätsel auch du,
Und ein Rätsel der Kampf und ein Rätsel die Ruh,
Und ein Rätsel der Schmerz und ein Rätsel das Glück,
Und es wandern die Wellen – nicht eine zurück!

Und ein Rätsel das Gute, das selbst sich belohnt,
Und ein Rätsel die Sünde, die keinen verschont,
Und ein Rätsel die Schönheit, die duftend erblüht,
Und ein Rätsel die Lieb‘, die das Herz dir durchglüht,

Und das stumme Gebet, das der Brust dir entschwebt,
Und die Ahnung der Gottheit, zu der sichs erhebt.
Und ein Rätsel des Schicksals verworrenes Spiel,
Und das schweigende Grab am gefürchteten Ziel!

Und doch vorwärts, nur vorwärts, ermattete Brust,
Wie die Wellen im Flusse mit brausender Lust,
Und so frag nicht erst lange, woher und wozu –
Und ein Rätsel die Welt und ein Rätsel auch du!

 

Wiederholung, vielleicht ein wenig viel, und Abwandlung! In der ersten Strophe haben die ersten drei Verse die gewöhnliche Mittelzäsur, der vierte bricht das inhaltliche Muster und verschiebt dabei auch die Zäsur!

Die ersten drei Verse der zweiten Strophe behalten dann die verschobene Zäsur bei, der vierte Vers kehrt zur Mittelzäsur zurück – durchaus etwas gewalttätig: „Lieb'“. Die zweite Vershälfte ist im Gegensatz zur ersten Strophe mit Relativsätzen gefüllt (Abwandlung); durchgehend (Wiederholung)!

In Strophe drei wieder etwas neues: zwei verschobene Zäsuren in den Mittelversen, eingerahmt von zwei gewöhnlichen Zäsuren; eine Ordnung, gegen die der Reim und das ein letztes Mal auftauchende „Rätsel“ anarbeiten! Wobei im dritten Vers der deutlichere Einschnitt vielleicht sogar hinter „Rätsel“ liegt?! Ich denke, man kann im Vortrag die eine wie die andere Zäsur verwirklichen (nur nicht beide gleichzeitig).

Die Schluss-Strophe beginnt wieder mit drei verschobenen Zäsuren, schließt dann aber mit einer gewöhnlichen; und der ganze Vers ist eine Wiederholung des Eingansverses.

Hm. Insgesamt wiederholt von Berger unglaublich viel, der Text wirkt dadurch eintönig; dann wieder bringt er viel Abwandlung hinein, um diese Wiederholung nicht Überhand nehmen zu lassen. Ganz glückt es ihm nicht, denke ich, der Text hat da kein wirkliches Gleichgewicht, aber vielleicht muss er das ja auch gar nicht – „vorwärts, nur vorwärts“! Der Prüfstein ist wie immer der Vortrag; also wer mag, der versuche sich und bewerte den Text im Anschluss selbst!

Schreibe einen Kommentar

Deine E-Mail-Adresse wird nicht veröffentlicht. Erforderliche Felder sind mit * markiert