Es kam in einem der vorigen Beiträge ja schon ein Blankvers-Text vor, bei dem vorne und hinten Reime auftauchten, also die Enden ein wenig anders gestaltet waren als die Mitte (Höllerer).
Der in diesem Beitrag vorgestellte Text arbeitet so ähnlich, nur dass diesmal vorne und hinten gewöhnliche Blankverse stehen, dazwischen aber einige Verse lang die „metrische Willkür“ ausbricht … und Reime, die gibt es auch zu bestaunen!
Es handelt sich um die „Karte von Sizilien“ von Marie Luise Kaschnitz, zu finden auf den Seiten 261 und 262 im fünften Band ihrer gesammelten Werke („Die Gedichte“); erschienen ist der 1985 im Insel-Verlag. Die ersten 17 Verse des Gedichts sind handelsübliche Blankverse:
Ich zeichne euch den Umriss. Einen Flügel
Wie von der Schulter einer Siegesgöttin.
Den Aufriss, eine Scholle Felsgebirge
Stehengeblieben unterm Glanz der Sonne
Indes mit Tang und Sand und Zug der Fische
Das Meer die süßen Ebenen bedeckt.
Das dunkle Strichwerk meint den Sturz der Hänge.
Flusstäler sieben bleiben ausgespart.
Ein Zackenkranz der Berg, wo Eis und Feuer
Heilige Hochzeit halten. Jetzt rückt näher
Am Abendtisch. Den Ölkrug heb ich auf.
Wo ich die Tropfen fallen lasse, wachsen
Wälder von schwarz und silbernen Oliven.
Wo ich das Brot zerkrümle, weht die Saat
Auf roten Hügeln, weiter Weg der Pflugschar.
Das weiße Salz im Osten ausgeschüttet
Meint Nahrung aus dem Meere, Salz und Fische
Es gibt einige der Auflockerungen zu sehen, die schon vorgestellt wurden: Drei versetzte Betonungen am Versanfang („Stehengeblieb-„, „Heilige Hoch-„, „Wälder von Schwarz“); Eines der „Betont-Nebenbetont-Unbetont“-Wörter ist dabei, gleichfalls am Versanfang: „Flusstäler“; Und zwei „schwach besetzte Hebungen“ sind vorhanden, „Ebenen„, „silbernen„. Gar nicht viel auf 17 Verse, es herrscht der übliche „Blankvers-Ton“.
Das ändert sich ab dem nächsten Vers allerdings schlagartig und nachhaltig:
Aber das gelbe Mondviertel Zitrone im Norden
Schatten der Laubdächer. Süßen Blühduft.
Die roten Pfeile, ausgestreckt im Meer
Dieser vom Festland, dieser von Afrika,
Dieser von Spanien, der aus der Peleponnes
Sind die Schiffswege der fremden Eroberer.
Nun hebt vom Gartenpfad die weißen Kiesel
Zu zweien, dreien. Glänzen sie euch nicht
Tempeln und Domen gleich im Mondeslicht –
Doch stampf ich mit den Füßen, seht
Wie sie schüttern und tanzen
Wie im Beben der Erde der fällt, der steht.
Holla! Bestimmt keine schlechten Verse, aber „richtige“ Blankverse sind nur noch die wenigsten davon … Gleich der erste Vers ist eigentlich rein „daktylisch“:
Aber das / gelbe Mond- / viertel Zi- / trone im / Norden
X x x / X x x / X x x / X x x / X x
… Noch dazu mit einem dieser eher unhandlichen Dreisilber („Mondviertel“) drin. Nun kann man zwar, witzigerweise! fast alle diese Abweichungen durch gehäuftes Auftreten der „Blankvers-Ausnahmen“ erklären, aber das ändert ja nicht daran, dass die alternierende Bewegungslinie eines Blankverses hier einfach vollständig unhörbar ist! Der letzte Vers etwa scheint mir so zu klingen:
Wie im Beben der Erde der fällt, der steht.
x x X x x X x X X x X
Obwohl es sehr gut klingt, auf diese Weise … Sogar zwei verkürzte Verse gibt es, und auch zwei Reime sind plötzlich da und vervollständigen das Kuddelmuddel: „nicht / -licht“ und „seht / geht“.
Nach diesem ziemlich heftigen Ausbruch aus den Blankvers-Vorgaben findet das Gedicht zum Schluss hin aber wieder zurück in die bekannten Geleise:
Die Lampe rück ich fort und wieder her
Und wieder fort. Nun Licht. Nun Dunkelheit.
Glanz und Verderben, ewiger Widerstreit.
Wo ist der kleine Bauer, den ich mir
Aus Brot geknetet? Dieser steht noch immer
Die Hacke in der Hand. Ein wenig tiefer
Gebeugt als zu Beginn. Was ist das Ganze?
Blut, Brot und Stein. Ein Stückchen Abendland.
Einen Reim gibt es noch, einen ziemlich blassen dazu („-heit / -streit“), und der „Glanz“-Vers ist ein klein wenig bewegter, aber nicht viel; und das war es dann endgültig, die letzten fünf Verse sind sehr gleichmäßig gebaute Blankverse.
Insgesamt wieder eine Möglichkeit mehr, den ohnehin schon sehr abwechslungsreich gestaltbaren Blankvers über einen längeren Text hin zu benutzen, ohne dass sich der Leser / Hörer langweilt! Ich denke, da ist irgendwo für jeden etwas dabei?!