Erzählverse: Der Blankvers (10)

Wie passt der Blankvers zur Prosa?! Da könnte man im Hamlet nachschauen, denn dieses Nebeneinander gab es schon zu Shakespeares Zeiten; aber ich führe hier doch lieber ein zeitgenössisches Stück an, „Die Umsiedlerin“ von Heiner Müller. Die folgenden Ausschnitte sind der 1984 erschienenen Ausgabe des Rotbuch-Verlags entnommen. Auf den Seiten 51 und 52 findet sich etwa:

RAMMLER

Ich bin dem Staat vielleicht ein bessrer Bürger
Als mancher, der ihm auf der Tasche liegt
Der erste Staat ists auch nicht, dem ichs bin
Ich kann verlangen, dass der Schein gewahrt wird.

Beutler lacht. Auftritt, den Hut im Gesicht, ein politischer Flüchtling.

FLÜCHTLING
Ich bin auf der Durchreise. Im Amt bis gestern, von unten geschmiert, von oben traktiert, hoch im Kurs bei der Bevölkerung, mein Bauch ist der Beweis, mit der Regierung auch auf Du, der Schrecken der Vorzimmer im Kreismaßstab, politischer Flüchtling heute. Sie kämmen die Dörfer ab, vornweg der Kreisparteimensch, SED auf Zündapp, jeden nackten Hintern fragt er, warum er keine Hose hat, der neue Landrat hinterher im alten Opel und erntet, was die Partei ihm gesät hat, setzt ab und setzt ein. Hinter mir ist Polizei her auch noch. Einer hat Feuer gelegt an den Maschinenschuppen, Trecker drin. Mir hängen sie Beihilfe an, weils mit gemeindeeigenem Benzin war. Woher sollt ers nehmen, alles rationiert. Du musst mir an die Elbe helfen, Beutler, es kann im Jauchekübel sein, aber Tempo. Ich hab keine Lust auf Bergwerk oder Bautzen.

BEUTLER
Ich auch nicht, also warum soll ich dir helfen?

FLÜCHTLING
Kann sein, du hilfst dir selber, wenn du mir hilfst.
Kollegen warn wir, Bürgermeister beide.
Kollegen sind wie wieder morgen, wenn du
Das Klima wechseln musst wie heute ich.

BEUTLER
Kann sein, ich helf mir, wenn ich dich jetzt anzeig.

– Also ein ganz unaufgeregter Wechsel: Der eine spricht im Blankvers, etwas ändert sich, der nächste spricht in Prosa; und beim nächsten Wechsel geht es zurück in den Blankvers. Das geht ganz gut, sicher auch, weil die Blankverse sich äußerst prosaisch geben?!

Ich auch nicht, also warum soll ich dir helfen?

Im „lyrischen“ Blankvers sind meist vier, oft alle fünf Hebungen mit einer Sinnsilbe besetzt, hier ist es gerade mal eine, die fünfte im Versausgang. Der nächste Vers sieht genauso aus:

Kann sein, du hilfst dir selber, wenn du mir hilfst.

Wieder nur eine Sinnsilbe, in der zweiten Hebung; noch dazu dieselbe wie im vorigen Vers.

Die Aufteilung kann aber auch ein wenig abwechslungsreicher sein! Auf Seite 24:

Flint. Ein Bauer mit Büchern.

FLINT
Bücher. Woher?

BAUER
Vom Schloss, wo sonst.

FLINT
Schaff sie zurück.

BAUER
Warum? Kein Hahn kräht danach, seit die Herrschaft Ausgang hat, das halbe Dorf kocht seine Wassersuppe und wischt sich den Arsch mit der Schlossbücherei. Warum soll grad ich die Ausnahme machen, acht Mäuler und kein trockener Ast im ganzen Landkreis nach drei Wochen Regen, acht Ärsche und kein Papier? Willst du Bücher lesen, den Magen an den Knien? Ich bin schon spät dran, die dicken sind vorbei. Am besten ist Meinkampf, das kauft in Berlin der Amerikaner. Geht.

FLINT ihm in den Weg:
SchillerundGoethe, wer hat ihm den Bauch gefüllt? Homer, wer hat ihn angezogen?
Kein Buchstab ohne dich und kein Gedanke.
Dein krummer Buckel, deine krumme Hand.
Und dir ists für den Rauch und für den Hintern.
Die Bücher sind Gemeindeeigentum.
Schaff sie zurück aufs Schloss. Kulturhaus morgen.

BAUER
Machs selber, Jesus. Ich hab andre Sorgen.

– Kurz vor diesem Ausschnitt klingen die verwendeten Blankverse sogar richtig sprichworthaft: „Ein ganzer Gaul für eine halbe Ernte.“ Dann scheinen sich Flint und der Bauer in ihrem kurzen Wortwechsel einen Blankvers zu teilen, doch wenn man nachzählt, merkt man, dass hier sechs Hebungen im Spiel sind, der Blankvers also schon verlassen ist. Der Bauer spricht reine Prosa, am Anfang noch mit Blankvers-Anklängen – „das halbe Dorf kocht seine Wassersuppe“ -, und Flint in seiner Entgegnung auch noch, für einen Augenblick; Dann wechselt er aber in Blankverse, die sehr streng dem Muster „Ein Vers – ein Satz“ folgen, und die Schlussbemerkung des Bauern schließlich behält das bei und fügt sogar noch einen Reim hinzu.

Sehr bunt also, insgesamt; doch auch hier wirkt das ganze  durch die Prosanähe des Blankverses nicht wirklich unrund!

Schreibe einen Kommentar

Deine E-Mail-Adresse wird nicht veröffentlicht. Erforderliche Felder sind mit * markiert