Abwechslung lässt der Blankvers selbst dann zu, wenn der metrische Aufbau Vers für Vers dem strengen
x X x X x X x X x X (x)
folgt! Das geschieht dann dadurch, dass „Hebungs-Stellen“ mit eher leichten Silben besetzt werden, und, seltener, „Senkungs-Stellen“ mit schweren Silben. Derlei führt zu keiner Veränderung des Metrums, wohl aber zu einer Veränderung der rhythmischen Einheiten, die beim wirklichen Lesen auftreten! Das haben eigentlich auch alle bisher vorgestellten Texte so gehandhabt, eigens darauf eingegangen wurde beim Text von Hermann Hesse. In diesem Beitrag soll es nun noch einmal darum gehen, ein wenig mit dem Augenmerk darauf, was geschieht, wenn ein Text diese Möglichkeit nicht wahrnimmt; wie sich ein „Leiern“ anhören kann!
Es handelt sich bei diesem Text um „Das Mädchen und der Tod“ von Hugo von Hofmannsthal:
Dies flüssig grüne Gold heißt Gift und tötet.
Wie gut es riecht: wie wenn der wilde Wind
In den Akazienbäumen irr sich fängt,
Dann geht man still im Mond auf weichen Blüten …
Vielleicht ist Totsein solch ein lautlos Wandern
Durch fremde leere Länder ohne Schlaf,
Auf stillen Brücken über grüne Wasser
Durch lange schwarze, schweigende Alleen,
Durch Gärten, die verwildern …
Und endlich komm ich an das Haus des Todes:
Im großen Saale ist ein großer Tisch
Aus grünem Malachit; den tragen Greifen.
Da sitzt der Tod zu Tisch und läd mich ein
Und Pagen viel mit feinen schmalen Händen
Und Schuh’n aus schwarzem Samt, die lautlos gleiten.
Die tragen wunderbare Schüsseln auf:
Ja, ganze Pfauen, Fische silberschuppig
Mit Purpurflossen, in den feinen Zähnchen
(Die sind vergoldet) stecken Lorbeerreiser
Und Trauben mit goldrotem Rost und offen
Granatäpfel, die auf weichen Kissen
Von frischen Veilchen leuchten, und der Tod
Hat einen Mantel an aus weißem Samt
Und setzt mich neben sich
Und ist sehr höflich …
Der Text macht einen sehr langsamen, verhaltenen, schweren Eindruck. Das liegt sicher auch daran, dass er viele Sinn-Wörter enthält, was aufs Metrum bezogen heißt, dass oft alle Hebungsstellen eines Verses mit Sinn-Silben besetzt sind – ein Beispiel ist dieser Vers:
Und Schuh’n aus schwarzem Samt, die lautlos gleiten.
Trotzdem wirkt dieser Vers noch einigermaßen bewegt. Hofmannsthal geht aber an manchen Stellen noch weiter:
Durch fremde leere Länder ohne Schlaf,
Das ist nun ein sehr einförmiger Text, da er nach der einleitenden unbetonten Silbe (die mit „durch“ ja auch recht „schwer“ verwirklicht ist) vier Worte mit gleichem Bau folgen lässt: „X x“.
(Durch) fremde / leere / Länder / ohne / Schlaf,
Dabei haben die ersten drei dieser Wörter auch noch denselben Vokal! Und noch deutlich wahrnehmbarer wird dieses „Leiern“ dadurch, dass im wesentlichen noch zwei weitere Verse dieser Art folgen:
Durch fremde leere Länder ohne Schlaf,
Auf stillen Brücken über grüne Wasser
Durch lange schwarze, schweigende Alleen,
Immer „Verhältniswort + X x“, im mittleren Vers sogar fünf „TAMtam“ am Stück (wobei „über“ etwas schwächer ist); erst das schweigen[b]de[/b], das die Bau-Silbe „-de“ in die Hebung stellt, lockert das ganze wieder etwas auf, ehe dann mit
Durch Gärten, die verwildern …
ein im Metrum dreihebiger (x X x X x X x), gesprochen aber zweihebiger Vers (x X x | x x X x) dem Spuk ein Ende macht.
Solcherlei gibt es noch häufiger:
Die tragen wunderbare Schüsseln auf:
Ja, ganze Pfauen, Fische silberschuppig
Wirkliche Abweichungen vom Metrum sind dagegen selten, der eine verkürze Vers wurde schon angesprochen; am Ende ist nur ein Vers auf zwei Zeilen umgebrochen. Ansonsten sind noch zu erwähnen „goldroten“, ein „Auf-Ab-Feind“, bei dem die eigentlich betonte Silbe eine Senkung füllt, und „Granatäpfel“, was durch den Ausfall einer unbetonten Silbe möglich wird:
Granat–äpfel, die auf weichen Kissen
x X (x) X x | X x X x X x
(Allerdings nur, wenn „Granatäpfel“ nicht anders betont zu werden pflegte, damals …) Durch das folgende, schwache „die“ in der Hebung ist der Vers einer der bewegteren im Text!
Eigentlich sollten Verse nicht „leiern“. Wenn es viele Verse dieses Textes doch recht stark tun, so wird sich Hofmannsthal etwas dabei gedacht, es als passend zur gedämpften Stimmung empfunden haben; da ließen sich ja auch andere Dinge finden, die in diese Richtung gehen (das doppelte „lautlos“ im Versausgang etwa).
Auf jeden Fall lohnt es sich aber, mal zu achten auf diese Dinge; vielleicht zuallererst darauf, an wievielen Stellen wieviele Wörter der Form „X x“ aufeinanderfolgen in einem alternierenden Text; denn solche Abschnitte sind für das Ohr sehr, sehr hörbar und schleichen sich leicht ein, weil es eben sehr viele solcher Wörter gibt!