Friedrich Rückerts „Liedertagebücher“ sind eine nie versiegende Quelle wunderbarer Gedichte; und wunderbar sind diese Gedichte, weil sie nachdrücklichst auf alles Tamtam verzichten, Zweck-Verse sind; durch und durch. Im Dezember 1846 schrieb Rückert diese trochäischen Fünfheber:
Welch ein Tönen weckt mich in der Frühe?
Zum Gebete, dacht‘ ich, wird geläutet;
Und im Schlafe faltet‘ ich die Hände.
Doch nicht recht wie ein Gebeteläuten,
Wie ein Winseln klang es, wie ein Quieken.
Da besann ich mich, dass gestern Abend
Ich gehört, dass heut‘ in aller Frühe
Drüben der Herr Pfarrer metzeln werde.
Legte mich noch einmal um, zu schlafen,
Und entschlief in der Betrachtung: Also
Dienet eines von dem Seelenhirten
Hingewürgten Tierleins Todesröcheln
Heut‘ im Dorfe statt Gebeteläutens,
Das mit Lust wird wecken die Gemeinde;
Denn es meldet allen guten Nachbarn
Vom Herrn Pfarrer, senden werd‘ er ihnen
Gegen Mittag ein Stück Kesselfleisches,
Und auf Abends eine Metzelsuppe.
„Zwischendrin“ wird es etwas unübersichtlich – der „Also …“-Satz ist nicht einfach zu überschauen, und ob sich der ihn schließende Relativsatz auf das „Gebeteläuten“ oder das „Todesröcheln“ bezieht, wird nicht ganz klar? Er passt zu beiden, und daher macht es nicht so viel aus … Sonst sind es klare, feststellende Sätze im unverkennbaren Rückert-Ton, unempfindlich gegen Härten wie „dass gestern Abend ich gehört“, die eine alltägliche Begebenheit erzählen – welche trotzdem Anlass einer bedenkenswerten „Betrachtung“ wird!