Heinz Schlaffer: Geistersprache. Zweck und Mittel der Lyrik.
In seiner Einleitung sagt Schlaffer über dieses Buch:
Sein Titel rückt dem zarten Wesen der Lyrik mit einem kruden Begriffspaar zu Leibe: Zweck und Mittel. Die Absicht, Gedichte als zweckgerichtete Handlungen zu verstehen, wird Befremden hervorrufen. Doch wer die ältesten überlieferten Gedichte liest – ägyptische und indische Gebete, hebräische Psalmen, frühgriechische Hymnen und Oden, althochdeutsche Zaubersprüche -, muss zugeben, dass diese etwas, und nicht wenig, bewirken wollten: die Götter gnädig stimmen, Krankheiten heilen, Missernten abwenden, den Feinden schaden. Der Glaube am eine solche Wirkung von Versen sei schon lange erloschen, wird man einwenden, aus der Lyrik sei etwas anderes, etwas Zweckfreies, wenn nicht Zweckloses geworden. Dem lässt sich entgegnen: die ältesten Zwecke sind zwar verschwunden, nicht aber die Mittel, die einst dazu dienten, jene Zwecke zu befördern – und zu diesen Mitteln gehört, wie sich zeigen wird, mehr als die auffällige sprachliche Gestalt der Lyrik. Ohne das Verständnis ihres archaischen Zwecks lassen sich die bis heute eingesetzten Mittel nicht verstehen. (Seite 9)
Das umreißt den Inhalt schon ganz gut … Los geht es dann mit Überlegungen zur „Anrufung“, was an sich ein sehr lohnender Gegenstand ist!
In der archaischen, nur im Rahmen des Gedichts noch gültigen Denkweise sind Materie, Pflanzen, Tiere, Menschen, Seelen, Geister nicht scharf von einander getrennt, sondern miteinander verwandt, ineinander verwandelbar und deshalb auf gleiche Weise ansprechbar. Es ist eine spezielle Leistung des Anrufs und eine generelle Aufgabe der Lyrik, die Seele und die Dinge einander anzunähern.
Noch ein kurzes Zitat aus diesem ersten Kapitel (Seite 21), das zeigt: hier liegt ein gut lesbares Buch vor, das Nachdenkenswertes vorstellt, und ob man den Überlegungen des Verfassers schlussendlich zustimmt oder sie ablehnt, ändert nichts daran, dass die für das Lesen aufgewendete Zeit gut angelegt ist.
Erschienen ist der Band 2012 bei Hanser!