Erzählformen: Das Distichon (38)

Emanuel Geibel schließt ein Fünf-Distichen-Epigramm mit diesem Verspaar:

 

Willst du Lebendiges zeugen, so schaffe, wie Gott schuf – liebend;
Göttlichen Odem beschert einzig die Liebe dem Werk.

 

Bemerkenswert daran ist der Hexameter, dessen fünfter Versfuß nicht, wie sonst eigentlich immer dreisilbig ist, sondern zweisilbig! Das ist schon in reinen Hexameter-Texten eine Ausnahme (im Schnitt weisen dort 2% aller Verse diesen Bau auf); im Hexameter eines Distichons kommt es aber noch seltener vor!

Der zweisilbige Fuß ist dabei ein würdiger Vertreter des dreifüßigen, denn durch die schwere Silbe, die in der Senkung steht („schuf“), und die nachfolgende, durch den Gedankenstrich verdeutlichte Sprechpause ist er von gleicher Länge und gleichem Gewicht; und er rechtfertigt sein Erscheinen mit seiner Wirkung, denn mit ihm wird das den Vers schließende „liebend“, das der Leserhörer ja vor allem wahrnehmen soll, eindrucksvoll vereinzelt und damit hervorgehoben!

Der Pentameter ist, verglichen damit, recht unscheinbar – auch inhaltlich; eigentlich könnte der Hexameter für sich stehen, als ein „Ein-Vers-Gedicht“:

Willst du Lebendiges zeugen, so schaffe, wie Gott schuf: liebend.

 – Mit leicht geänderter Zeichensetzung, weil nun am Versschluss die Spannung „auf Null“ geht. Allerdings fällt die Abweichung vom gewöhnlichen Bau so noch stärker auf?! Und ins Gesamtepigramm, das ja fünf Distichen lang ist, fügt sich der Pentameter dann doch gut ein!

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