Gegenstand dieses Fadens war bisher der ungereimte, gereihte trochäische Vierheber; und er soll es auch bleiben. In diesem Beitrag gehe ich aber einen Schritt weg vom geraden Wege und werfe einen Blick auf Texte, die den ungereimten trochäischen Vierheber nicht gereiht, sondern mehr oder weniger strophisch verwenden!
Am üblichsten sind da sicher vierzeilige Strophen. Ein sehr bekanntes Gedicht in diesem Maß ist Heinrich Heines „Der Asra“; ich möchte hier aber einen weniger bekannten Text vorstellen, Conrad Ferdinand Meyers „Auf dem Canal grande“:
Auf dem Canal grande betten
Tief sich ein die Abendschatten,
Hundert dunkle Gondeln gleiten
Als ein flüsterndes Geheimnis.
Aber zwischen zwei Palästen
Glüht herein die Abendsonne,
Flammend wirft sie einen grellen
Breiten Streifen auf die Gondeln.
In dem purpurroten Lichte
Laute Stimmen, hell Gelächter,
Überredende Gebärden
Und das frevle Spiel der Augen.
Eine kleine, kurze Strecke
Treibt das Leben leidenschaftlich
Und erlischt im Schatten drüben
Als ein unverständlich Murmeln.
Genau wie „Der Asra“ vier Strophen mit vier Zeilen, und hier wie da sind die Strophen auch deutlich als Strophen zu erkennen: Jede enthält einen eigenständigen Teil des vorgestellten Geschehens. Dadurch fließt die Sprache nicht so frei wie in den bisher betrachteten Texten, nach je vier Zeilen kommt ein Einschnitt, ein Haltepunkt; aber über vier Strophen lässt sich das gut aushalten, und der Verfasser kann diesen strophischen Rahmen auch sicher nutzen, um einen Text auf eine Art und Weise aufzubauen, die ihm bei fortlaufenden Vierhebern nicht zur Verfügung stände?!
Will man in solchen vierzeiligen Einheiten längere Strecken erzählen, verwischen die Strophengrenzen naturgemäß – die Sinneinschnitte am Strophenende sind nicht mehr so stark, und oft fließt die Handlung einfach über die Strophengrenze hinweg. Ein Beispiel dafür borge ich mir bei Heine, der seine zahlreichen Vierheber-Texte grundsätzlich so abgeteilt hat.
Ziemlich am Anfang des über 200 Strophen langen „Jehuda ben Halevy“ geht es um die berühmten „Hängenden Gärten der Semiramis“:
Königin Semiramis,
Die als Kind erzogen worden
Von den Vögeln, und gar manche
Vögeltümlichkeit bewahrte,
Wollte nicht auf platter Erde
Promenieren wie wir andern
Säugetiere, und sie pflanzte
Einen Garten in der Luft –
Hoch auf kolossalen Säulen
Prangten Palmen und Zypressen,
Goldorangen, Blumenbeete,
Marmorbilder, auch Springbrunnen,
Alles klug und fest verbunden
Durch unzähl’ge Hängebrücken,
Die wie Schlingepflanzen aussahn
Und worauf sich Vögel wiegten –
Große, bunte, ernste Vögel,
Tiefe Denker, die nicht singen,
Während sie umflattert kleines
Zeisigvolk, das lustig trillert –
Alle atmen ein, beseligt,
Einen reinen Balsamduft,
Welcher unvermischt mit schnödem
Erdendunst und Missgeruche.
Da ist der „Heine-Ton“ recht deutlich zu hören … Wichtiger im Rahmen dieses Fadens ist aber die Art, in der Sprache, Satz und Sinn unbekümmert von einer Strophe zur anderen springen: die Stropheneinteilung ist hier nicht viel mehr als eine Hilfe fürs Leserauge!
Der Beachtung wert ist noch die zweite Strophe. Heine lässt in mancher Strophe einen Vers mit einer betonten Silbe enden; das lockert den Text angenehm auf. Für den allgemeinen Aufbau solcher Texte spannend ist dieses Vorgehen, wenn ein solcher betont endender Vers am Schluss der Strophe steht, wie hier in der zweiten gezeigten Strophe:
Einen Garten in der Luft –
Macht man das als Verfasser durchgängig, stärkt das natürlich die Wahrnehmung der einzelnen Strophen, denn die betonte Silbe und die anschließende Pause, die die fehlende unbetonte Silbe vertritt, heben sich meist deutlich heraus!
Das ergibt dann wieder ein etwas anderes Erzählen, der Text wird wieder kleinteiliger; und auch fester. Damit kann man dann Ernsteres erzählen, wie Conrad Ferdinand Meyer in „Kaiser Friedrich der Zweite“:
In den Armen seines Jüngsten
Phantasiert der sieche Kaiser,
An dem treuen Herzen Manfreds
Kämpft er seinen Todeskampf.
Aber da belasse ich es bei der ersten Strophe und schließe diesen Beitrag lieber mit einem eher heiter-verspielten Text Meyers, mit den ersten vier Strophen von „Don Fadrique“. Auch hier gibt es den betonten Strophenschluss:
Don Fadrique bringt ein Ständchen
Der possierlichen Pepita:
„Liebchen, strecke durch die Türe
Deines Füßchens Spitze nur!“
Und die drollige Pepita
Streckt durch eine schmale Spalte
Eines allerliebsten Fußes
Weißes Spitzchen in die Luft.
Don Fadrique krümmt den Rücken,
Will das weiße Spitzchen küssen,
Knabe Amor steht beiseite,
Der den Bogen lachend spannt.
Nach dem ewigjungen Herzen
Zielt er, doch wer lacht, der zielt schlecht:
In des Ritters alten Rücken
Schießt er einen Hexenschuss.
So geht das dann … Aber man sieht: Es muss nicht immer „gereiht“ sein, auch „strophisch“ hat seinen Reiz; und zwischen diesen beiden Möglichkeiten gibt es reichlich Mischformen, so dass eigentlich für jeden Schreibenden etwas dabei sein sollte.