Erzählverse: Der iambische Siebenheber (2)
Epigramme, die aus einem Paar von Langversen bestehen, neigen zur Antithetik: Des einen Verses Inhalt steht gegen den Inhalt des anderen Verses, oder der Inhalt der einen Vershälfte gegen den Inhalt der anderen Vershälfte. So auch beim Verspaar aus iambischen Siebenhebern, wie „Disharmonie“ von Wilhelm Müller zeigt:
Erzähl dein Glück dem Unglück nicht, dein Unglück nicht dem Glück!
Hier klingt dir Leid auf deine Lust, dort Lust auf Leid zurück.
Das wirkt durch den die einzelnen Teile streng verknüpfenden Aufbau möglicherweise sinniger, als es in Wirklichkeit ist; aber auch so, oder: gerade so?! ist es ein Beispiel für die Wirksamkeit solcher Versgestaltung …
Pfadfinder (2)
Unter Büschen
Er sagt’s und schlägt sich in die dichten Büsche,
Die hinter seiner Bank noch immer blühen.
„He! Warten Sie!“, ruft Heinrich und er folgt
Dem Doktor nach, der zwischen schweren Zweigen,
Im Nebel auch, kaum noch zu sehen ist;
Nach fünf, sechs Schritten schon weiß er nicht mehr,
Woher er kam, und nicht, wohin es geht –
Da stolpert er auf eine kleine Lichtung,
Kein Nebel dort und wundertiefe Stille,
Und findet Dr. Sotz, der kniet im Gras
Und blickt auf etwas. Heinrich geht zu ihm,
Kniet gleichfalls, schaut und fragt: „Ein toter Frosch?“
Erzählverse: Der Hexameter (111)
Immer wieder spannend zu verstehen: Wie macht man als Dichter aus nichts etwas? In den alten Zeiten war das einfach – alle kannten die Grundlagen der griechischen Mythologie, und darauf aufsetzend lassen sich leicht kleine Geschichten erzählen. Reiht man dann auch noch Beispiele, steht bald ein ansehnlicher Text da … Als Beispiel diene Christian Adolph Overbecks „Der gefangene Amor“:
Habt ihr den Amor gehascht, und höhnt mutswillig, ihr Jungfraun?
Traut dem Gefangenen nicht, o ihr Lieblichen! Wisset, er lässt sich
Kürzen die Schwingen von euch: umsonst! Sie wachsen ihm wieder.
Kirr mit rosigen Seilen umschlingt er sich: aber o trauet,
Traut dem Gebundenen nicht; er ist glatt, er entschlüpft aus den Seilen.
Wieder lässt er sich greifen, der Schalk, und weinet so kläglich:
Traut dem Weinenden nicht! er will euch Tränen entlocken,
Und dann lacht er verschmitzt. Er fleht mit gebogenem Kniee:
Traut dem Knieenden nicht! er ist ein Tyrann, er will herrschen.
Mädchen, ich riet es euch nicht, die verwegene Jagd zu beginnen!
Aber habt ihr gefangen nunmehr den tückischen Vogel;
Eilt, und hinauf mit ihm vor Gericht! Bei Pallas verklagt ihn!
Seht, dort steht er beschämt, ein Verstummender, fürchtend die Rute.
Das ist kein großartiges Gedicht, keine Frage, und die Welt wäre nicht ärmer, wäre es nicht geschrieben worden; trotzdem hat es seinen Reiz, der gerade in seiner Flüchtigkeit besteht … Wozu der Hexameter als gewählte Versform sicherlich beiträgt, da sich die Sprache zwanglos in ihn einfügt?!
Pfadfinder (1)
Nebelmorgen
Die alte Parkbank überragt nur knapp,
Mit ihrer Rückenlehne höchster Latte,
Den Bodennebel dieses Sommermorgens;
Und Heinrich sieht von Dr. Sotz, der sitzt
Auf ihr, die Brust samt Kopf und Denkerstirn,
Mehr nicht – er geht still lächelnd auf die Bank zu,
Wo Sotz ihn schon gesehen hat und aufsteht.
„Nun, Heinrich, wenn Sie schon am frühen Morgen
Der Welt ein derart breites Lächeln schenken,
Sind Sie gewiss bereit, mich zu begleiten
An einen Tatort der beson’dren Art.
Los, kommen Sie; es sind nur ein paar Schritte!“
Erzählformen: Das Distichon (14)
Heinrich Hoffmanns „Der Fluch des Hauses“ ist ein gutes Gedicht, finde ich; jedenfalls vom Versbau her. Nicht allzu lang, aber dabei doch eher elegisch als epigrammatisch; was auch am Bau der Pentameter hörbar wird, die durchgängig auf ein antithetischens Gegeneinander der beiden Pentameterhälften verzichten und den Satz über den Zusammenstoß zweier betonter Verssilben in der Versmitte vergleichsweise geräuschlos hinweggleiten lassen! Auffällig (und wohl nicht ganz so gelungen) die große Menge an Ergänzungen in Form eines Mittelworts – zögernden, bittender, lauerndem, welkenden, fröstelndem: die bieten sich sicher an in Hexa- und Pentameter, weil sie die Senkungen aus zwei unbetonten Silben bequem füllen und auch helfen, die langen Verse „vollzubekommen“; aber diese Bequemlichkeit bemerkt man beim Lesen durchaus, erst recht, wenn diese Mittelwörter an derselben Stelle aufeinanderfolgender Verse gebraucht werden, zum Beispiel im fünften Fuß, wie es hier bei Hoffmann in den beiden letzten Versen geschieht.
Wehe dem Unglückshaus, von dessen verödeter Schwelle
Zögernden Schrittes der Geist freundlicher Liebe entflieht.
Oftmals blickt er zurück, und es füllt sich mit Tränen das Auge,
Weil, ach! zur Umkehr nicht ladet ein bittender Wink.
Noch in der Ferne einmal. Umsonst! Er bleibt ein Verstoß’ner.
Trauernd verhüllt er das Haupt, wandelt die Straße und weint.
Aber da innen am Herd, am verlassenen, sitzet die Zwietracht;
Schweigend, mit lauerndem Blick stützt sie das Kinn auf die Hand,
Und die Flamme verlischt auf dem Herd im verderblichen Atem;
Blickt sie ihn an, so verstummt plötzlich des Vogels Gesang;
Dort an dem Fenster entfallen der Rose die welkenden Blätter,
Und von Gemach zu Gemach weht es mit fröstelndem Hauch.
Zu finden ist das Gedicht in Hoffmanns 1853 erschienenem „Breviarium der Ehe“ – er wird gewusst haben, warum …
Erzählverse: Der Blankvers (66)
Georg Heyms „Dionysos“ ist ein langes Gedicht; ich stelle hier die letzten fünfzehn Verse vor. Heym hat Dreiergruppen von ungereimten iambischen Fünfhebern geschrieben, also: von Blankversen. Vielleicht könnte man auch „Strophen“ sagen; aber wirkliche Strophen wiederholten auch die Anordnung der „männlichen“ und „weiblichen“ Schluss-Silben; und das geschieht eben nicht, die Dreiergruppen haben mal diese Versenden, mal andere:
Sie passen in die Königskleider nicht,
Die Zwerge, die wie kleine Affen hocken
Im Götterpurpur auf der Blitze Thron.
Kehr wieder, Gott, dem Pentheus einst erlag.
Du Gott der Feste und der Jugendzeit.
Kehr wieder aus des Waldes grünem Reich.
Kehr wieder, Gott. Erlösung, rufen wir.
Erlöse uns vom Kreuz und Marterpfahl.
Tritt aus dem Walde. Finde uns bereit.
Wir wolln dir wieder Tempel bauen, Herr.
Wir wollen Feuer an die Kirchen legen,
Vergessen sei des Lebens Traurigkeit.
Wir flehn zu dir in mancher stillen Nacht.
Wir sehen hoffend zu den Sternen auf.
Tritt aus den Sternen. Hör das Rufen, Herr.
Ein wirkungsvolles Gedicht, keine Frage! Das sicher auch durch die Art geprägt wird, auf die Satz und Vers fast immer zusammenfallen; deckungsgleich sind. Wie das im Expressionismus im Allgemeinen und bei Heym im Besonderen halt so üblich war … Ob auch die Verteilung von betonten (Im Textausschnitt in großer Überzahl) und unbetonten Schluss-Silben eine Rolle spielt?! Wer weiß; dafür müsste man sicher das ganze Gedicht ansehen.
Bücher zum Vers (79)
Eduard Belling: Die Metrik Schillers
Ein altes Werk, erschienen 1883 bei Koebner, und daher an vielen Stellen nicht mehr ganz auf der Höhe der Zeit; aber die knapp 350 Seiten enthalten trotzdem noch genug Nachdenkenswertes! Gegenstand der Betrachtung sind die Werke Friedrich Schillers, deren metrischer Aufbau aufs genaueste durchleuchtet wird.
Als Beispiel kann die Verteilung von „männlichen“ (betonte Schluss-Silbe) und „weiblichen“ (unbetonte Schluss-Silbe) Blankversen dienen; dazu sagt Belling, dort, wo die eine Art in beträchtlichem Umfang vorherrsche, entstehe dadurch ein spürbarer Ausdruckswert. Wallensteins Tod hat am Schluss des zweiten Aktes, in der Szene, in der Max und Octavio Piccolomini sich trennen, 57 Blankverse mit weiblichem Ausgang, aber nur 23 mit männlichem; das „passe recht gut zu dem elegischen Ton, der durch die ganze Szene klingt“. Das ist sicher eine Überlegung wert – ich gebe einige Verse, von Max gesprochen, damit man sich ein Bild machen kann:
Oh! wärst du wahr gewesen und gerade,
Nie kam es dahin, alles stünde anders!
Er hätte nicht das Schreckliche getan,
Die Guten hätten Kraft bei ihm behalten,
Nicht in der Schlechten Garn wär‘ er gefallen.
Warum so heimlich, hinterlistig lauernd
Gleich einem Dieb und Diebeshelfer schleichen?
Unsel’ge Falschheit! Mutter alles Bösen!
Du jammerbringende, verderbest uns!
Wahrhaftigkeit, die reine, hätt‘ uns alle,
Die welterhaltende, gerettet. Vater!
Ich kann dich nicht entschuldigen, ich kann’s nicht.
Der Herzog hat mich hintergangen, schrecklich,
Du aber hast viel besser nicht gehandelt.
– Nur zwei männlich endede Verse, so dass die angesprochene Wirkung hier deutlich werden müsste?! Hm. Wer nicht Bellings Meinung ist und den Weg seiner Gedanken für nicht geradlinig hält, kann das immerhin mit Max‘ Vers, der den obigen unmittelbar vorausgeht, zum Ausdruck bringen:
Dein Weg ist krumm, er ist der meine nicht.
Der dann, passenderweise, nicht weiblich, sondern männlich schließt …
Grabspruch
Sieben Jahre, dann löschte ein Auto dein leuchtendes Dasein,
Quintus, mein Kater! aus – Ruhe in Frieden, mein Freund.