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Erzählverse: Der trochäische Fünfheber (10)

Allzu viele Versepen hat das 20. Jahrhundert nicht hervorgebracht; aber einige eben doch, und darunter durchaus beachtliche! Im Insel-Verlag ist zum Beispiel 1924 Albrecht Schaeffers „Parzival“ erschienen, eine über 600 Seiten starke Nach- und Neuerzählung des Parzival-Stoffes, geschrieben in fünfhebigen Trochäen! Ein kurzer Ausschnitt ganz vom Anfang, also aus Parzivals früher Jugend:

 

Doch entlief der Knabe nach dem Walde,
Voller Wissbegier, durch Stämme, angstvoll,
Stillehaltend, atmend in der Wärme,
In der Dämmrung unter Buchenkuppeln
Grünen Scheins, durchsprengt von goldnen Lichtern –
Und die Stille tönte da unsäglich,
– So als zwitscherten die goldnen Flecken –
Unablässig, nah und ferne, jubelnd,
Rufend, jauchzend, flötend, triumphierend:
Überzog ihm da sein ganzes Innres
Eine goldne Heiterkeit und flößt‘ ihm
Solch ein Prickeln in das Herz und Auge,
Dass er lachte, und so lernt‘ er dieses.

 

– So zu lesen auf Seite 18. Ich glaube, das ist eine Art des Erzählens, die der Verserzählung eigen ist?! Ich kann mir eine derartige Auflösung des Satzbaus ohne ein Auffangen durch den metrisch geregelten Vers jedenfalls nur schwer vorstellen!

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Nächtens

Nächtliche Stille, in der, ich weiß es! Dinge geschehen –
Blind ist mein Auge, mein Ohr taub, die Gedanken: sind frei.

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Bücher zum Vers (78)

Christian Wagenknecht: Metrica minora. Aufsätze, Vorträge, Glossen zur deutschen Poesie.

Ein Sammelband, erschienen 2006 bei Mentis. Auf über 280 Seiten sind Wagenknechts kürzere & verstreute Texte versammelt: „Abhandlungen vornehmlich zur Verstheorie“ (darunter zum Beispiel elf Seiten über Permutationsgedichte sowie sechs Seiten über Monosticha), „Studien zur Geschichte der deutschen Poesie (Mit elf Seiten zum Spiel der Metren im Helena-Akt des Faust), „Miszellaneen zur Theorie und Geschichte der Verskunst“ (mit zwei Seiten zu Goethes Blankvers).

Alle Inhalte, genannte wie ungenannte, sind in irgendeiner Form wissenswert und aufschlussreich, „Metrica minora“ daher ein durchaus empfehlenswertes Buch! Wer die Gelegenheit hat, sollte einen bis zwei Blicke hineinwerfen.

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Erzählverse: Der Hexameter (109)

Jakob Michael Reinhold Lenz war gerade einmal 18 Jahre alt, als er 1769 seine 1500 Hexameter umfassenden „Landplagen“ schrieb; eine wüste Aneinanderreihung von Grausamkeiten und Schrecknissen, eine Szene immer noch schlimmer als die davor! Aus dem zweiten Buch, „Hungersnot“:

 

Und ich gucke durchs äußere Gitter. – Entsetzliches Schauspiel!
Würdig die Hölle zu zieren! Vom schröcklichsten Dunkel beschattet,
Schlachtet ein wütendes Weib ihr Kind. Umsonst fällt es nieder,
Dreimal nieder aufs Antlitz und flehet mit heißen Tränen
Mit erblasstem Gesicht und lautem Zittern und Schluchsen
Um sein jugendlich Leben; vergeblich schlingt es die Ärmchen
Um die stampfenden Füße der Mutter. Oft zwar empöret
Sich das Muttergefühl, es schwillt der abscheuliche Busen,
Der das unschuldige Opfer genährt, von erschütterndem Schmerze,
Und der ausgestreckete Arm weicht kraftlos zurücke;
Aber ihn lenket die Macht der Höll‘, er vollführt, er vollführet,
Er vollführet den schröcklichsten Streich. Sie schreit, sie mordet und knirschet,
Rauft ihr Haar mit der Linken, und tötet ihr Kind mit der Rechten.

 

Ja. Schröcklich fürwahr … Nun gibt es die Geschichte bei Lenz auch „andersrum“ – die Mutter versagt sich jedes Essen, um es ihren Kindern zu geben, und stirbt. Aber die Frage ist doch mehr: Wie erzählt man so was? So wie es Lenz getan hat, eher nicht; zumindest heute nicht mehr. Obwohl man dem Ganzen eine gewisse Wirkung nicht absprechen kann – die Probe darauf ist, wie immer, das laute Lesen! Bemerkenswert dabei die über das Versmaß verwirklichte stimmliche Steigerung  beim dreimaligen „vollführt“:

Aber ihn / lenket die / Macht der / Höll‚, || er voll- / führt, er voll- / führet,
Er voll- / führet den / schröcklichsten / Streich. || Sie / schreit, sie mordet und / knirschet,

Bei der ersten Widerholung kommt eine unbetonte Silbe hinzu, bei der zweiten Wiederholung rutscht dann noch zusätzlich das „Er“ auf die Hebungsstelle, wird also betont, was, scheint mir auch das „voll-“ noch anhebt und einen eindrücklichen Gipfel auftürmt, von dem aus das Geschehen sich dann schwungvoll herabwerfen kann?!

Insgesamt sind Lenz‘ Hexameter schlecht – es macht keine wirkliche Freude, die „Landplagen“ zu lesen. Aber so hier und da, wie immer, wenn ein wirkungsvolles Maß und ein zumindest ansatzweise begabter Dichter zusammenkommen: gibt es doch feine Verse.

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Das Königreich von Sede (73)

Schemel singt den Fröschen kurze Lieder,
Schlichten Inhalts, auch; er lässt die Finger
Auf den Saiten seiner Laute wandeln,
Altbekannte Wege erst, und einsam,
Ehe sie des Narren Sang begleitet …
Und er singt den Fröschen dicke Fliegen,
Schwergewichtig kreisend, tiefen Brummens,
Fern dem Maul, der Zunge unerreichbar,
Noch; und singt den Hunger leerer Mägen,
Nichts darin, das vorhält, nur: die Hoffnung.

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Erzählformen: Das Reimpaar (23)

Von Hermann Claudius hatte ich bisher nur die beiden Schlagwörter „Nazi-Dichter“ und „Urenkel von Matthias Claudius“ im Kopf (wie auch immer man die beiden zusammenbringen und -denken soll …) Jetzt kam mir der erste Band von Claudius‘ „Gesammelten Werken in zwei Bänden“ in die Hände, erschienen 1957 im Christian Wegner Verlag, und  von dem, was damals 20 Jahre zurücklag, findet sich – nichts. Stattdessen viele unauffällige Gedichte über die Natur, Gott und das einfache Leben, nichts wirklich Gutes, nichts abgrundtief Schlechtes; und dann und wann ein leiser, ferner Anklang und Bezug auf das, was 200 Jahre zurücklag, die Texte des berühmten Vorfahren. „Simple Ballade“ (zu finden auf Seite 52):

 

Hans Peter Simpel sprang, ward groß,
trank seine Milch, aß seinen Kloß,
hatt‘ einen frischen, harten Mut,
schlug um sich und war wieder gut,
pflügt‘, säte, mähte, schlief auf Stroh,
nahm sich ein Weib, war mit ihm froh,
zeugt‘ lieber Kinder sechse, sieben,
ward hochbetagt und ist verschieden …
Und als er kam ins Himmelsland,
war’n Gott und er sich wohlbekannt.
Gott sprach: sitz nieder, liebe Seel,
Hans Peter Simpel, und verzähl! –

 

Das ist nun, die Überschrift ist Programm! bewusst einfach gehalten bis an die Grenze zum Ungeschickten – simpel eben. Immerhin lohnt es sich, über den Anteil nachzudenken, den das Reimpaar an diesem Eindruck hat; es bietet der schlichten Aufzählung, und aus mehr besteht das Gedicht ja eigentlich nicht, jedenfalls einen geeigneten Rahmen!

Matthias Claudius‘ bekanntes Gedicht „Der Mensch“ beginnt mit „Empfangen und genähret / vom Weibe wunderbar“ und schließt, nachdem die Stationen des Menschenlebens durchlaufen sind, mit „Denn legt er sich zu seinen Vätern nieder, / Und er kömmt nimmer wieder.“ Wunderbar. Manchmal sind Gedichte einfach gestrickt; und manchmal sehen sie nur so aus …

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Die Bewegungsschule (40)

Ein Nachklang zum letzten Eintrag der „Bewegungsschule“, der sich ja ausführlich mit dem Pentameter beschäftigt hat; und zwar in seiner Rolle als zweiter Vers im Distichon. Auf diese Rolle ist der Pentameter festgelegt und kommt selbstständig oder als Bestandteil anderer Formen eigentlich nicht vor.

Eigentlich! Wie immer lohnt es, in solchen Fällen bei Friedrich Gottlieb Klopstock vorbeizuschauen, genauer: bei seinem Gedicht „Sie“ (bemerkenswerter Titel, auch).

 

Freude, wem gleichst du? Umsonst streb ich zu wählen. Du bist
Allem, was schöner ist, gleich, allem, das hoch
Sich erhebet, allem, was ganz
Rühret das Herz.

O, sie kennen dich nicht! Wissen sie, dass du nicht kommst,
Wenn sie dir rufen? Dass du, Freieste du,
Sie, wenn zu zwingen sie wähnen, verlachst,
Fliehend verlachst?

Freieste, aber du bist Fühlenden, Redlichen hold,
Lächelst ihnen. Du labst dann wie der West,
Blühest wie Rosen, welche mit Moos
Gürten ihr Blatt,

Glühst von der Lerche Glut, hebt sie gen Himmel sich, weinst,
Wie die gekränzete Braut, wie, wenn den Sohn,
Junge Mutter nunmehr, sie umarmt,
Drückt an ihr Herz.

Aber du weinest auch, wenn mit der Wehmut du dich
Einst und der Tröstung. Besucht oft sie, ihr drei,
Denen ihr liebe Gespielinnen seid,
Grazien seid!

 

Eigenartig, diese ständig fortschreitende Verkürzung der Verse?! Schaut man sie sich einzeln an, erkennt man: V1 dieser Strophe ist ein vollwertiger Pentameter.

X x (x) / X x (x) / X || X x x / X x x / X

V2 ein um den letzten Daktylus verkürzter Pentameter:

X x (x) / X x x / X || X x x / X x x / X

V3 kann man als erste Hälfte eines Hexameters ansehen:

X x (x) / X x x / X x x / X || x (x) / X x x / X x

V4 schließlich ist der wegen seines Wohlklangs von Klopstock außerordentlich geschätzte „Choriambus“, der sowohl im Hexa- wie im Pentameter häufig zu hören ist:

X x x X

Alles also bekannte Bausteine, aber von Klopstock hier auf ganz neue und, wie mir scheint, wirkmächtige Art zusammengesetzt! Die Art, wie Klopstock dabei die Sätze durch die Verse führt, ständig absetzend und wieder aufnehmend: trägt sicher zur Wirkung bei.

Alles in allem ein Beispiel, von dem man einiges lernen kann, trägt man sich denn mit dem Gedanken, entweder eigene Strophenformen zu ersinnen; oder neue Verwendungsmöglichkeiten für die eigentlich aus festen Rahmen bekannten Bewegungslinien zu finden!

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Erzählformen: Das Reimpaar (22)

„PPP. Pamphlete – Parodien – Postcripta“ heißt ein 1964 bei Langen Müller erschienener Band Friedrich Torbergs, und darin findet sich von Seite 213 an „eine Literaturgeschichte in Beispielen“. Thorberg padodiert den Stil der angesprochenen Verfasser und lässt inhaltlich kein gutes Haar an ihnen; manchmal geht es auf diese Art aber auch gegen bestimmte Richtungen der Dichtung, zum Beispiel die „Großstadtlyrik“:

 

Fabriken stehen Schlot an Schlot,
vorm Hurenhaus das Licht ist rot.

Ein blinder Bettler starrt zur Höh,
ein kleines Kind hat Gonorrhoe.

Eitrig der Mond vom Himmel trotzt.
Ein Dichter schreibt. Ein Leser kotzt.

 

Reimpaare aus iambischen Vierhebern haben etwas Unmittelbares, Schnörkelloses; was Torberg sich hier zu Nutze macht, besonders im dritten und letzten Paar, das sich zwar erst einmal eine kleine Auflockerung gönnt in Form der versetzten Betonung „Eitrig der Mond“, dann aber im Schlussvers nachdrücklich mit einer einprägsamen Gegenüberstellung schließt.

„Großstadtlyrik“ ist, immer noch, ein Unterrichtsgegenstand in der Schule, glaube ich?! Diese Verse sind mir in den entsprechenden Materialien allerdings noch nicht aufgefallen … Schade eigentlich.