0

Erzählverse: Der Hexameter (108)

Joachim Ringelnatz‘ „Träumerei“ ist ein doppelt bemerkenswertes Gedicht: Einmal, weil es zu Werbezwecken geschrieben wurde, wie sein, nun ja,  Untertitel verrät: „Reklamegedicht für die Orientalische Tabak- & Zigarettenfabrik Yenidze, März 1908“. Zum anderen wegen des gewählten Versmaßes – der Hexameter ist zwar erkennbar Grundlage, aber längst nicht immer verwirklicht! Die ersten Verse:

 

Klopfte es nicht? – Wahrhaftig, die Tür wird geöffnet …
Vor mir mit Turban und wallendem Mantel stand Harun al Raschid.
Seinem Winke gehorchend, folgte ich klopfenden Herzens.
Schweigend eilten wir zwei durch fremde, verdunkelte Gänge,
Bis uns auf einmal am Tor strahlende Helle umfing.
Dort unter himmlischer Bläue vor meinem staunenden Auge
Schäumte, rauschte, glitzerte tausendfältig
Wie mit Smaragden besäet – das unermessliche Meer.

 

Ein buntes Durcheinander?! Nimmt man den Hexameter als Maßstab, ist der erste Vers einen Fuß zu kurz, der zweite zwar sechsfüßig, aber seltsam ungeformt. Der dritte Vers hat eine falsche Zäsur, dann folgt aber nicht nur ein formvollendeter Hexameter im vierten Vers, sondern auch noch ein lupenreiner Pentamter im fünften, so dass urplötzlich ein Distichon erklingt! Dann wieder ein guter Hexameter im sechsten Vers, ehe ein fünffüßiger Vers und ein um die Schlusssilbe verkürzter Hexameter diesen Abschnitt beschließen.

So, vom Hexameter her gehört, eine ganz eigene Erfahrung und, denke ich mal, von Ringelnatz auch so gewollt?! Er hätte ja ohne große Schwierigkeiten „regelrechte“ Hexameter schreiben können –

Klopfte es nicht? – Wahrhaftig, die Tür wird geöffnet, und vor mir
Stand, mit Turban und wallendem Mantel: Harun al Raschid.

Hat er aber nicht! (Warum sich die Gegenwartsform „wird geöffnet“ eingeschlichen hat, ist allerdings unklar.)

Werbender war Ringelnatz aber aus Überzeugung, immerhin: „Die Zigaretten sind wunderbar“, merkt er an anderer Stelle an in Bezug auf das beworbene Produkt.

0

Erzählformen: Die Brunnen-Strophe (8)

Wenn man in Gedichtsammlungen des 19. Jahrhunderts stöbert, findet man neben guten Texten (meist von den „üblichen Verdächtigen“) auch viele nicht allzu überzeugende Werke. Oft gibt diesen die Brunnenstrophe Form – sie ist leicht zu füllen und gestaltet die Sprache trotzdem merklich. Niclas Müllers „Abends“ etwa, gefunden in „Deutschlands Dichter von 1813 bis 1843“, klingt so:

 

Die Abendglocke schallet
Und mahnt zur Ruh die Welt,
Ein stiller Friede wallet
Hin übers Ackerfeld.

O kehre, sanfter Friede,
In unsre Hütte ein,
Du sollst in meinem Liede
Dafür gepriesen sein.

 

Ja. Was soll man da noch sagen? Das ist dann schon wieder so schlicht, dass es überzeugend wirkt.  „In der Poesie ist er ganz und gar Autodidakt. Seine Lieder sind zart in Bildern und Gedanken und gediegen in der Form“, weiß Herausgeber Karl Gödeke über den Verfasser zu berichten, und man ahnt, was er damit meint … Die „gediegene Form“ lässt sich hier vielleicht an der Aufteilung beider Strophen in zwei gleiche Hälften erkennen (V1 + V2, V3 + V4), wozu die Brunnenstrophe allgemein neigt ; was der Satzbau leicht auseinanderdrückt, führt der Reim wieder zusammen, und  dieses Gegen- und Miteinander lässt die Strophe lebendig wirken.

0

Sommerfest

Nimmt von, und isst mit Behagen: Beates Nudelsalat, ruft
„Herrlich!“, er reicht mir, „Famos!“ lächelnd den Teller; und geht.

0

Erzählverse: Der Hexameter (107)

Vor bald 250 Jahren verfasste Gottfried August Bürger für sein „Gebet der Weihe“ diese drei Hexameter:

 

Denn uns enget den Raum das Gewühl der Wechsler und Krämer,
Und der Kärrner, die uns aus jeglicher Zone der Erde
Struppigen Plunders viel zukarren, der uns nicht not tut;

 

Da muss man sich dann fragen, was ihm wohl angesichts der heutigen „Warenströme“ für Verse aus der Feder flössen … Schöne Hexameter, jedenfalls. Und immer noch trockener, gelassener als viele andere in diesem Stück; was bei einem Weihegebet nicht verwundert. Ich stelle noch den Schluss vor:

 

Göttin des Dichtergesangs und der edleren Rede der Menschen,
Die du mit Wohltat begannst, als Menschenleben erwachte,
Und fort wohltun wirst, bis alles im Grabe verstummt ist,
Die du den Säugling tränkst aus würzeduftendem Busen,
Dann als blühende Braut den feurigen Jüngling umarmest,
Drauf ein gesegnetes Weib der Kraft des rüstigen Mannes
Kinder des ewigen Ruhms gebierst, voll Leben und Odem,
Endlich mit Milde den Greis, wie der Strahl der herbstlichen Sonne
Die entladene Rebe, noch hegst und pflegst und erwärmest,
Walterin, die du warst und bist mit den Bessern, und sein wirst,
Sei uns Wenigen hold und gib uns Kraft und Gedeihen!

 

Verse, die zumindest eins lehren: Ein Auffächern, Ausbreiten und Darreichen ist machbar, und der Hexameter ist ein dafür vorzüglich geeigneter Raum und Rahmen.

0

Die Bewegungsschule (38)

Friedrich Gottlieb Klopstock hatte macherlei Vorstellungen von der Wortbewegung, die uns heute fremd und wunderlich vorkommen. Dazu zählt ganz sicher auch der Versuch, verschiedenen Bewegungslinien, also verschiedenen Rhythmen ihnen entsprechende „Beschaffenheiten“ zuzuordnen:  Das Sanfte, das Starke, das Muntre, das Heftige, das Erstvolle, das Feierliche, das Unruhige!

Inwieweit das trägt, muss sich jeder selbst überlegen. Aber schon nachzudenken über den Ansatz, den Klopstock hier verfolgt, macht das eigene Schreiben wacher und aufmerksamer und ist darum allemal die Zeit wert!

Die Liste (die schon allein als Übersicht über die möglichen „Wortfüße“ nützlich ist!), samt einiger knapper Anmerkungen Klopstocks:

 

Sanftes

— v Laute
— v — v Klagestimme
— v — v v lieblichtönende
v — v Gesänge
v — v — v die Widerhalle
v — v v — v des Baches Gelispel
v — v v gewendete

 

Starkes

v — — der Ausruf
v — v — — des Kriegers Ausruf
— v v — v v innigerschüttertes
— v v — — schrecklicher Angriff
— v v — Donnergeräusch
v v — — — mit des Weltmeers Schall
v v v — — — das es vom Sturm aufbraust

 

Muntres

v v — v v der geflügelte
v v — v das Gesäusel
v v — — in dem Lautmaß
— v v — v Silbergewölke

v — begann, und — v v freudige haben auch Muntres, das sich aber weniger ausnimmt. Es fehlt ihnen der tanzende Gang der drei ersten. v v — — in dem Lautmaß hat diesen Gang am hörbarsten.

 

Heftiges

v — v — mit Ungestüm
v v — im Gefecht
v — v v — der Panzer Getön
v v — v — des Geschwaders Flug
v v — v v — mit der Schwerter Geklirr
v v v — zu dem Getös
v v v — — da vom Gefild auf
v v v — v in dem entflammten
v v v — v v zu der vertilgenden

 

Ernstvolles

— — — v mitausrufend
v — — — des Anfalls Wut
— v — Wetterstrahl
v — — — v des Aufruhrs Brausen
v — — — v v die Unglückselige

 

Feierliches

— — v v aufschauende
— — — v v Unglückselige

 

Unruhiges

Diese Füße sind alle abstechend.

— — v Sturmwinde
— v v v Flüchtigere
v — — v — des Heerzugs Getös
— v v v — tödliches Geschoss
v v — — v v vom Gebirg hallende
v — — v v der abtrünnige
v v — — v in der Nacht Schrecken
v — — v im Abgrunde

0

Erzählverse: Der trochäische Fünfheber (8)

Carl Spittelers „Das Orakel“ erzählt so schnörkellos, wie man es von Spitteler gewohnt ist, und wirkt dabei doch unzweifelhaft „versisch“. Das liegt sicher auch an den vielen, teils (aufgrund nachfolgenden Vokals) verkürzten einsilbigen Versformen am Versbeginn, die den Satzbau verbiegen? Derlei kennt man eher aus den – kürzeren – vierhebigen Trochäen; hier tut es auch im längeren Vers seinen Dienst …

 

Saß am Goldfischweiher das Prinzesschen,
Schaut‘ ihr lachend Ebenbild im Spiegel,
Warf ein Ringlein in den Teich und summte:
„Holla! Wasserspiegel, Zauberspiegel,
Tu ein Zeichen, deute mir die Zukunft.“

Sieh da, aus dem blauen Wasserhimmel
Taucht‘ ein Rosenwölklein auf zur Linken;
Doch von rechts her kam ein schwarz Gewitter,
Wuchs und schwoll und fraß das Rosenwölklein.
Auf die Füße sprang das kleine Fräulein,
Rührt‘ ein Stöckchen zornig durch das Wasser,
Das den Spiegel heftige Wellen trübten,
Hüpft‘ alsdann und tanzte durch den Garten:
„Ist doch alles Trug und Teufelsblendwerk!
Ich bin jung und schön, das ist die Wahrheit.“

 

– Wobei diese Verbformen am Versanfang im zweiten Teil viel geringere Auswirkungen haben?! Sonst ist noch das „Sieh da“ bedenkenswert, weil es (nur) auf der ersten Silbe betont falsch klingt; und die einzige doppelt besetzte Senkung an passender Stelle, „heftige“.

Der Schlussvers ist … beachtlichen Inhalts.

 

0

Ohne Titel

Wenn Frösche, die im Wasser schwimmen, sterben
(Nicht fremdverschuldet, jemand will sie fressen,
Nein, einfach so, zack! tritt der Tod sie an):
Versinken sie, und es wird um sie dunkler,
Und ist das Wasser tief, noch immer dunkler,
Sie sinken und was dann geschieht, wer weiß?
Das Wasser, sicher; und die Dunkelheit.

0

Erzählverse: Der Hexameter (106)

In August von Platens gesammelten Werken findet sich der folgende, 1820 entstandene Text „Die Antiken“ unter „Gelegenheitsgedichte“:

 

Lasst uns ledig, und öffnet sogleich Rüstkammer und Wandschrank!
Nicht am dumpfigen Ort in Gewölben zu wohnen geziemt uns:
Denkt doch, was wir und wo wir gewesen, und schenket uns Mitleid!
Dies uralte Gefäß war einst der ägyptischen Gärten
Zier, und Kleopatra selbst ließ füllen mit Myrtengezweig es;
Dieser geschnittene Stein, ein doppeltgeschichteter Onyx,
Zierte des jungen Antinous Hand, als köstlichen Ringschmuck
Trug ihn der schöne, doch ach! zu frühe vergötterte Jüngling;
Ich, als Hermes, stand in der Halle des Caesar Augustus,
Wo mich ein Lorbeergewächs mit südlichem Duft anhauchte.
Und nun habt ihr uns hier aufeinandergehäuft und geordnet,
Eins das andre verdrängend, und dies durch jenes verdunkelt,
Keins am schicklichen Ort, in belebendem Schimmer der Sonne.
Selbst das gelehrte Gesicht des begaffenden Kenners ermüdend,
Liegen geschichtet wir hier, gleich traurigen Knochen im Beinhaus,
Und in empfänglicher Brust aufregen wir schmerzliche Sehnsucht
Nach den Tagen, in denen wir fast wie Lebendige prangten.
Zieht nicht Rosen auch ihr, frischblühende Flechte zu winden
Um den etrurischen Krug und die Scheitel der Büste von Marmor?
Habt nicht Tempel auch ihr, nicht schattige Gartenarkaden,
Dass ihr uns dorthin pflanzt, in die Nähe des ewigen Himmels,
Jedem Beschauer zur Lust, uns selbst zur süßen Gewohnheit?

 

Hm. Für ein „Gelegenheitsgedicht“ nicht so übel?! Schaut man sich Platens Vers an, erkennt man die üblichen Anzeichen des eher „antikisierenden“ Hexameterstils, allen voran die „geschleiften Spondäen“, die hier nicht Besonderheit sind, sondern metrischer Alltag – los geht es gleich im ersten Vers:

Lasst uns / ledig, und / öffnet so- / gleich || Rüst- / kammer und / Wandschrank!

So finden einige Wörter der Form „Rüstkammer“, die als Daktylen nicht taugen, als geschleifte Spondäen doch ihren Weg in den Text: „uralte“, „aufregen“, „frischblühende“, und sogar in Verbindung mit einem zweisilbigen fünften Fuß: „anhauchte“. Auch eine Kenngröße sind die Wörter der Form „Wandschrank“, die Platen hier ausschließlich an den Versschluss setzt: „Mitleid“, Ringschmuck“, „Beinhaus“, „Sehnsucht“.

Alles in allem eine deutliche Gestaltung, die aber im Vortrag gut hörbargemacht werden kann und so einen ausdruckstarken Text hervorbringt!