Im wesentlichen gilt das, was der gestrige Eintrag zum dreiteiligen Bau vieler alter Lieder gesagt hat, auch für das Sonett: Ein Aufgesang aus zwei Stollen (V1-V4, V5-V8), ein Abgesang, länger als ein Stollen, aber kürzer als der Aufgesang (V9-V14); die Reime des Abgesangs sind neu, ihre Anordnung unterscheidet sich von der Reimanordnung des Aufgesangs (an diesem Bau ändern die drei Leerzeilen, mit denen ein Sonett heute dargestellt wird, nicht wirklich etwas!) Passend zum Tage soll das vor Augen führen ein Sonett von Hermann Kurz:
Weihnachten
Am schmucken Baume flimmern hundert Kerzen,
Mit lichtem Blick, mit Jauchzen hüpft der Knabe
Und mustert halb im Traume seine Habe;
Selbst Alte lockt der Glanz zu frischen Scherzen.
Mein Auge, sollte dich die Helle schmerzen?
Denkst du, o Herz, an manche schöne Gabe
Von ihnen, die da schlummern in dem Grabe?
Mahnt dich dies Fest an zwei gebrochne Herzen?
Frisch, Seele! deiner eignen Weihnacht denke,
Wie eine Flamme festlich dich durchdrang,
Wie dich begrüßten himmlische Geschenke,
Der Sonnengeist einzog durch alle Tore,
Und jenes schmerzlich stolze Lied erklang,
Das Opferlied: Anch‘ io sono pittore!
– Vielleicht kein wirklich großes Gedicht, aber doch eins, in das man hineinschauen kann … Ziemlich klassisch im Aufbau kommt es daher, eines der Sonette, für die man den so oft geforderten und so selten verwirklichten „These-Antithese-Synthese“-Aufbau vielleicht wirklich einmal gelten lassen darf; und eines, dessen Reime zu denken geben!
V1 schließt mit „Kerzen“; wenn dieses Wort als Reim in den Quartetten auftaucht, weiß man als Sonett-Leser sofort, was folgen wird: „Herzen, Schmerzen, Scherzen“. Sicher, da gäbe es auch „Terzen“ oder „Nerzen“, aber das wäre eine ziemliche Überraschung – die Frage ist ab dem Ende von V1 eigentlich nicht mehr das „Was“, sondern nur noch das „Wie“: die Bezüge und die Reihenfolge!
Kurz ordnet an, wie zu lesen ist. Bemerkenswert, wie das „Herz“ im Inneren von V6 anklingt, ehe die „Herzen“ in V8 die Quartette / den Aufgesang schließen, während das „schmerzlich“, V13, das „Schmerzen“ aus V5 im Vers noch einmal aufnimmt.
Den zweiten Reim der Quartette legt „Knabe“ fest; und da ist nicht ganz so klar, wie es weitergehen wird. Von daher ist die Hinwendung zu „Grabe“ vielleicht eine kleine Überraschung, erst recht in einem Weihnachtsgedicht, das ja auch „weihnachtsstimmig“ einsetzte?!
Immerhin hat Kurz so eine Reihe von Weihnachts-Sonetten begonnen, in denen andere Dichter Weihnachten mit dem Tod in Verbindung gebracht haben – ein Beispiel wäre Paul Heyse, in dessen Gedichten sich im Abschnitt „Meinen Toten“ unter „Weihnachten in Rom“ drei Sonette solchen Inhalts finden: „Drei Kinder in der Ferne, drei begraben“ sagt ein Quartett-Vers des ersten Sonetts, die anderen Reimworte sind, wie bei Kurz, „-gaben“, „haben“ (das Verb) und „Knaben“!
Im zweiten Terzett schließlich reimt Kurz Wörter aus verschiedenen Sprachen. Das ist dann sicher vollständig unerwartet, andererseits aber schon beim Einsetzen des bekannten Zitats sicher. „Auch ich bin Maler!“ soll Correggio gerufen haben, als er vor einem Bild Raffaels stand; das ist, zum Guten oder Schlechten des Sonetts, allerdings eine Gewichtsklasse, in die Kurz bei weitem nicht gehört … Aber gut:
Dies Lied hat schroffe Züge, und es ist,
Als reihten sich Felsblöcke aneinander
Zu Strichen eines Bildes, – aber doch,
Wenn auch nicht mir, ist’s meinem Schatten ähnlich.
Ja mancher einzle Zug trifft zu und malt
Mir seltsam längst vergessne Wirklichkeit.
Das sind sechs Blankverse von Kurz, aus einem ganz anderen Text; die hier als Schlusswort stehen mögen.