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Go, Wiegenlied

Einer jungen Gospielerin zu singen

Schlafen alle doch inzwischen:
Auf den Tischen schlafen Bretter,
Auf den Brettern schlafen Dosen,
In den Dosen schlafen Steine,
Drum schlaf nun auch, du Kleine,
Wie die Steine in den Dosen,
Wie die Dosen auf den Brettern,
Wie die Bretter auf den Tischen.

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Bücher zum Vers (60)

Dieter Lamping (Hrsg.): Handbuch Lyrik. Theorie, Analyse, Geschichte

2011 bei J.B. Metzler erschienen, schafft es dieser Band, auf knapp über 400 Seiten eine erstaunliche Menge an Wissen unterzubringen! Das Inhaltsverzeichnis führt an:

I. Theorie und Poetik der Lyrik, II. Lyrikanalyse, III. Typologie der Lyrik (Funktionen; Themen und Verfahren; Relationen), IV. Lyrikvermittlung, V. Geschichte der Lyrik (von „Griechische Lyrik“ bis „Gegenwart“).

Also eigentlich ein recht vollständiger, bis fast ins Heute reichender Überblick?! Dass dabei nicht alles bis ins kleinste besprochen werden kann, leuchtet ein; aber dank vieler Verweise und Literaturangaben ist ein „Weiter“ eigentlich immer möglich, sollte man an einigen Punkten doch mehr wissen wollen.

Der knappe Raum erfordert allerdings auch eine knappe Ausdrucksweise der vielen Beiträger, wodurch das Lesen manchmal etwas mühselig wird. Aber das kann man in Kauf nehmen, denke ich!

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Erzählformen: Das Sonett (12)

Zu Weihnachten läuft man Gefahr, dem ein oder anderen Beschenkungsversuch nicht ausweichen zu können. So  ging es auch mir, und daher habe ich mir eben ein Audiobuch angehört, „made by WDR“: Robert Gernhardt spricht. Fertig ist das Sackgedicht heißt es.

Man kann 72 Minuten schlechter verbringen. Etwas störend ist, dass Gernhardt zwar viele Gedichte geschrieben hat, aber auf Lesungen nur wenige davon vorträgt, weswegen man manches schon einige Male gehört hat.

Erst recht gilt das für sein allgegenwärtiges Sonett „Materialien zu einer Kritik der bekanntesten Gedichtform italienischen Ursprungs“. Immerhin sagte er bei dieser Gelegenheit – die Lesung fand 1998 in Bonn statt – gleichsam im Vorbeigehen einen kleinen Satz, der mich aufhorchen ließ:

Man kann Sonette nicht richtig hören.

Und wenn Gernhardt dann liest, weiß man, was er meint: er ordnet den Vers fast vollständig dem Satz unter im Vortrag, die Reimwörter werden nicht herausgehoben, Gleichklänge scheinen damit fast zufällig da zu sein. Das kann man so machen, und es ist sicher auch wirkungsvoll; aber ist es eine Wesenseigenschaft von Sonetten?!

Wer mag, kann Gernhards Vortrag zum Beispiel auf Youtube lauschen (bei einer anderen, früheren Lesung):

Die allerletzten Gedichte

Das kann man sich alles anhören, das Sonett trägt er aber ab 3:10 vor.

Danach lohnt sich vielleicht noch ein Besuch bei lyrikline.org:

Materialien zu einer Kritik …

– Denn da steht zum einen der Text, also das Sonett (auch) als „Bild“; und zum anderen ist Gernhardt in der dort vernehmbaren Lesung nicht ganz so streng dem Vers gegenüber – den Übergang vom ersten ins zweite Quartett kennzeichnet er sehr deutlich, obwohl das vielleicht auch einfach nur ein Hakler ist; jedenfalls fällt im Vergleich auf, wieviel deutlicher auch das Reimwort zum Tragen kommt!

Der Übergang aus den Quartetten in die Terzette, seit altersher ein Haltepunkt, ist aber so deutlich „nicht-haltend“ angelegt, dass deine Pause eigentlich unmöglich ist; trotzdem unterscheiden sich die beiden Lesungen auch da.

Na ja. Insgesamt kann man Sonette schon „richtig hören“, denke ich; wenn sie der Verfasser darauf anlegt und der Vortragende dann hörbar machen will. Und Zuhörer, die vertraut sind mit dem Sonettbau, sind bestimmt nicht von Nachteil dabei …

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Erzählformen: Das Madrigal (14)

Johann Nikolaus Götz ist ein Dichter, der der näheren Betrachtung wert ist. Unbedingt! Auch wenn er gern, wie hier, nur Versatzstücke aus der Antike beziehungsweise der Schäferdichtung aneinanderreiht – darauf kommt es nicht an. Sondern darauf, wie sich seine Verse bewegen und ineinandergreifen, und überall Maß waltet und Wohlklang; und das macht Götz einfach wunderbar. Nicht umsonst hatten andere Dichter eine hohe Meinung von ihm, zeitgenössische wie spätere!

 

Die Macht der Liebe

Mich wiegete das Flüstern reger Bäume
Und mein geliebter Bach in einem Erlenhain
In sanften Schlaf und sanfte Träume
Bei spätem Abend ein.
Ein Waldsirenenchor durch tausend süße Lieder
Erweckte mich am Morgen wieder.
Aurora ging geschmückt hervor
Aus ihrem Rosentor,
Gleich einer Braut an ihrem Feste.
Der Flora leichte Hand, der Hauch der linden Weste
Bestreuete die Flur, erfüllete die Luft
Mit Purpur und mit Balsamduft.
Ismene kam: nun hatt‘ ich für Auroren,
Für Zephyrn und für Floren
Kein Auge mehr, und für der Vögel Chor
Und meinen Bach kein Ohr.

 

„Aus nichts etwas machen“ nennt man das wohl; aber auch dieses Auffächern, dieses Darreichen will gelernt und gekonnt sein!

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Das Königreich von Sede (61)

Die Sonne sinkt; am Wassergraben
Die Frösche sich versammelt haben.

Sie schweigen still; aus ihrem Schweigen
Beginnt ein Toter aufzusteigen,

Aus dem Grabe sehn sie steigen:
Einen Geist mit einer Geigen,
Spielen, sich verbeugen, winken,
Traurig lächelnd niedersinken.

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Erzählformen: Das Sonett (11)

Im wesentlichen gilt das, was der gestrige Eintrag zum dreiteiligen Bau vieler alter Lieder gesagt hat, auch für das Sonett: Ein Aufgesang aus zwei Stollen (V1-V4, V5-V8), ein Abgesang, länger als ein Stollen, aber kürzer als der Aufgesang (V9-V14); die Reime des Abgesangs sind neu, ihre Anordnung unterscheidet sich von der Reimanordnung des Aufgesangs (an diesem Bau ändern die drei Leerzeilen, mit denen ein Sonett heute dargestellt wird, nicht wirklich etwas!) Passend zum Tage soll das vor Augen führen ein Sonett von Hermann Kurz:

 

Weihnachten

Am schmucken Baume flimmern hundert Kerzen,
Mit lichtem Blick, mit Jauchzen hüpft der Knabe
Und mustert halb im Traume seine Habe;
Selbst Alte lockt der Glanz zu frischen Scherzen.

Mein Auge, sollte dich die Helle schmerzen?
Denkst du, o Herz, an manche schöne Gabe
Von ihnen, die da schlummern in dem Grabe?
Mahnt dich dies Fest an zwei gebrochne Herzen?

Frisch, Seele! deiner eignen Weihnacht denke,
Wie eine Flamme festlich dich durchdrang,
Wie dich begrüßten himmlische Geschenke,

Der Sonnengeist einzog durch alle Tore,
Und jenes schmerzlich stolze Lied erklang,
Das Opferlied: Anch‘ io sono pittore!

 

– Vielleicht kein wirklich großes Gedicht, aber doch eins, in das man hineinschauen kann … Ziemlich klassisch im Aufbau kommt es daher, eines der Sonette, für die man den so oft geforderten und so selten verwirklichten „These-Antithese-Synthese“-Aufbau vielleicht wirklich einmal gelten lassen darf; und eines, dessen Reime zu denken geben!

V1 schließt mit „Kerzen“; wenn dieses Wort als Reim in den Quartetten auftaucht, weiß man als Sonett-Leser sofort, was folgen wird: „Herzen, Schmerzen, Scherzen“. Sicher, da gäbe es auch „Terzen“ oder „Nerzen“, aber das wäre eine ziemliche Überraschung – die Frage ist ab dem Ende von V1 eigentlich nicht mehr das „Was“, sondern nur noch das „Wie“: die Bezüge und die Reihenfolge!

Kurz ordnet an, wie zu lesen ist. Bemerkenswert, wie das „Herz“ im Inneren von V6 anklingt, ehe die „Herzen“ in V8 die Quartette / den Aufgesang schließen, während das „schmerzlich“, V13, das „Schmerzen“ aus V5 im Vers noch einmal aufnimmt.

Den zweiten Reim der Quartette legt „Knabe“ fest; und da ist nicht ganz so klar, wie es weitergehen wird. Von daher ist die Hinwendung zu „Grabe“ vielleicht eine kleine Überraschung, erst recht in einem Weihnachtsgedicht, das ja auch „weihnachtsstimmig“ einsetzte?!

Immerhin hat Kurz so eine Reihe von Weihnachts-Sonetten begonnen, in denen andere Dichter Weihnachten mit dem Tod in Verbindung gebracht haben – ein Beispiel wäre Paul Heyse, in dessen Gedichten sich im Abschnitt „Meinen Toten“ unter „Weihnachten in Rom“ drei Sonette solchen Inhalts finden: „Drei Kinder in der Ferne, drei begraben“ sagt ein Quartett-Vers des ersten Sonetts, die anderen  Reimworte sind, wie bei Kurz, „-gaben“, „haben“ (das Verb) und „Knaben“!

Im zweiten Terzett schließlich reimt Kurz Wörter aus verschiedenen Sprachen. Das ist dann sicher vollständig unerwartet, andererseits aber schon beim Einsetzen des bekannten Zitats sicher. „Auch ich bin Maler!“ soll Correggio gerufen haben, als er vor einem Bild Raffaels stand; das ist, zum Guten  oder Schlechten des Sonetts, allerdings eine Gewichtsklasse, in die Kurz bei weitem nicht gehört … Aber gut:

 

Dies Lied hat schroffe Züge, und es ist,
Als reihten sich Felsblöcke aneinander
Zu Strichen eines Bildes, – aber doch,
Wenn auch nicht mir, ist’s meinem Schatten ähnlich.
Ja mancher einzle Zug trifft zu und malt
Mir seltsam längst vergessne Wirklichkeit.

 

Das sind sechs Blankverse von Kurz, aus einem ganz anderen Text; die hier als Schlusswort stehen mögen.

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Erzählformen: Die Brunnen-Strophe (5)

Die Brunnen-Strophe ist auch ein gern genutzter Baustein beim Zusammenfügen umfangreicherer Strophen. Das lässt sich, passend zur Weihnacht, zum Beispiel an diesem alten und bekannten Weihnachtslied zeigen:

 

Es ist ein Ros‘ entsprungen
Aus einer Wurzel zart,
Wie uns die Alten sungen,
Von Jesse kam die Art
Und hat ein Blümlein bracht
Mitten im kalten Winter,
Wohl zu der halben Nacht.

 

– Denn die ersten vier Verse sind ja genau die Brunnen-Strophe! Allgemein verwirklicht diese siebenversige Strophe den alten, dreiteiligen Lied-Aufbau:

Es gibt einen „Aufgesang“, der aus zwei gleichen Teilen besteht („Stollen“); das sind hier „Es ist ein Ros‘ entsprungen / Aus einer Wurzel zart“, erster Stollen; und dann „Wie und die Alten sungen, / Von Jesse kam die Art“, zweiter Stollen. Soll heißen: Die Brunnen-Strophe bildet den Aufgesang!

Daran schließt sich der „Abgesang“ an, der sich in der Länge vom Aufgesang unterscheidet: er ist meist länger als ein Stollen, aber kürzer als der gesamte Aufgesang. Also hier mit drei Versen länger als ein Stollen mit zwei Versen, aber kürzer als der gesamte Aufgesang mit seinen vier Versen!

Auch in Hinblick auf den Reim und das Metrum unterscheidet sich der Abgesang: Hier führt er einen neuen Reim ein, während der sechste Vers reimlos bleibt – eine reizvolle“Waise“.

Insgesamt sieht das Silbenbild dieser Strophe also so aus:

x X / x X / x X / x a
x X / x X / x X b
x X / x X / x X / x a
x X / x X / x X b
x X / x X / x X c
x X / x X / x X / x
x X / x X / x X c

Eine sehr ausgeglichene und so angenehm zu schreibende wie zu hörende Strophe! Überhaupt ist der beschriebene Grundaufbau eines dreiteiligen Liedes wunderbar ausgewogen – wer einmal selbst eine Strophe entwerfen möchte, hat hier einen Rahmen, der viele eigene Gedanken zulässt und doch eine sichere Grundlage ist.

Und wer weiß, vielleicht lässt sich dabei ja auch die Brunnen-Strophe verbauen? Sie ist jedenfalls Ausgangspunkt sehr vieler längerer Strophen!

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Ohne Titel

Um nochmal aufs Sonett zurückzukommen:
Das ist so eine Sache … Soll ich’s lassen,
denn, weil: es scheint nicht mehr zum Jetzt zu passen
Und meinen Versen – hab ich angenommen,

Und fühle mich doch sonderbar beklommen:
So wie man Tee nur aus bestimmten Tassen
Genießt, gibt’s Dinge, die Sonette fassen,
Und nur Sonette – halt. Lasst einen Frommen

Mich auf die Bühne stellen, da ein Reimwort
Auf „-ommen“ sonst mir fehlt; und auch geschehen
Muss was … Der Fromme zieht auf seinem Schleim fort

(Er ist ’ne Schnecke), seinen Gott zu sehen,
Und trifft ihn auch, baut Tempel sich und Heim dort,
Und dient; stirbt; zeugt: vom Werden und Vergehen.