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Der blaue Kurt

Geschichten gibt es viele zu erzählen …
Wie wäre es mit der vom blauen Kurt?
Der ist vom Augenblick an der Geburt
So himmelblau, dass sich aus allen Kehlen –

„Sieh an!“, „Erstaunlich!“, „Sonderbar!“, „Mir fehlen
Die Worte!“, „Gelangt ihr je an eine Furt,
Gehört das Kind, ganz gleich wo, festgezurrt;
Man säh es nicht im Wasser!“ – Rufe stehlen.

Man rät, man folgt, und schnell wächst Kurt heran,
Stets himmelblau und immer gut zu sehen,
Bis er im Grasland einen Felsen findet,

Besteigt und vor der Weite steht, um dann
Im Blau des Sommerhimmels aufzugehen –
Ein Junge, der, man ahnt warum: verschwindet.

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Erzählformen: Die alkäische Strophe (13)

Wie schon in den bisherigen Einträgen zur alkäischen Strophe erwähnt, führte ihr 2500 Jahre langer Weg ins Deutsche von Alkaios über Horaz hin zu Klopstock; und da eine alkäische Strophe von Alkaios in (10) vorgestellt wurde, ist jetzt Horaz an der Reihe! Als Übersetzer bleibe ich bei Emanuel Geibel, der Horaz‘ 31. Ode des ersten Buches unter dem Titel „An Apollo“ so ins Deutsche gebracht hat:

 

Was fleht zuerst der Sänger im Heiligtum Apolls?
Was heischt er, wenn er den Opferwein
Ihm feiernd ausgießt! Nicht die reiche
Frucht von Sardiniens Segensfluren,

Nicht Herden, wie das heiße Kalabrien
Sie nährt, nicht Gold noch indisches Elfenbein,
Landgüter nicht, an denen spiegelnd
Liris, der schweigende Strom, dahinwallt.

Kalenertrauben keltere froh, für wen
Das Glück sie blühn ließ. Möge der Handelsherr
Aus tiefem Goldkelch Weine schlürfen,
Die er um syrisches Gut erworben,

Der Götter Schützling, weil er im Jahreslauf
Dreimal und viermal glücklich den Ozean
Durchsteuert; mir genügt des Ölzweigs
Beere zum Mahl und die leichte Malve.

Doch gib, o Phöbus, dass ich gesund an Leib
Und Geist genieße, was du beschieden hast,
Und dass ich kein unrühmlich Alter
Leb‘, und die Zither getreu mir bleibe.

 

Sehr sichere Strophen, die Geibel hier abliefert. Wie gut sie als Übersetzung sind, ist eine andere Frage; aber sie bewegen sich nachdrücklich, das Lesen macht Spaß. Nur bei „Dreimal und viermal“, was ja eben nicht auf der ersten Silbe, wohl aber auf der vierten Silbe betont werden darf, muss man im Vortrag ein wenig hin- und herversuchen? Aber auch das liest sich, betont man es schwebend, ohne Stocken und wirkungsvoll.

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Erzählverse: Der Hexameter (86)

Ludwig Gotthard Kosegarten muss man heutzutage nicht mehr kennen, und seine „Jucunde“ – „eine ländliche Dichtung in fünf Eklogen“ – nicht gelesen haben; aber einige ihrer Hexameter taugen vielleicht doch, aufzuzeigen, wie wirkungsvoll „antikisierende“ Vorstellungen im Hexameter eingesetzt werden können!

Es geht um die Ausfahrt junger Frauen; der Wagen, gezogen von zwei „Braunen“, kommt und wird beladen:

 

Als dies alles das Fräulein gebührend bedacht und geordnet,
Sprangen die Mägdlein behend in den zierlichen Wagen; es schwang sich
Hurtig der Bursch auf den luftigen Sitz, und mit Donnergeprassel
Sprengte Rüd’ger hinab den gepflasterten Hof, dass den Steinen
Funken entstoben, und hochauf rauschten die Mähnen der Braunen.

 

Mal davon abgesehen, dass man das Gefühl von „Zuviel“ nicht los wird, alles leicht übertrieben und kitschig wirkt und unpassend auch („zierlich“ / „mit Donnergeprassel“) – der letzte Vers hört sich gestalteter an, spannungsreicher als die anderen?!

Funken ent- / stoben, und / hochauf / rauschten || die / Mähnen der / Braunen.

X x x / X x x / X x / X x || x / X x x / X x

So sähe das im Silbenbild aus, mit betonten und unbetonen Silben; aber liest man wirklich „hochauf“, klingt es schäbig, der Vers gewinnt keine Gestalt. „Antikisierend“, lang-kurz gedacht ist das aber ein Spondäus:

— v v / — v v / — — / — v || v / — v v / — v

Und so gelesen, hochauf, passt es wunderbar zum „rauschten“; und diese herausgehobene Versmitte stärkt den Vers und gibt ein eine unverwechselbare Gestalt?!

Aber das geht hier eben nur als Ausnahme, und nur, weil die erzielte Wirkung mit dem Inhalt in Beziehung steht.

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Erzählverse: Der trochäische Fünfheber (3)

August von Platens märchenhaftes Epos „Die Abbasiden“ ist längst nicht so bekannt, wie es sein sollte. Daher stelle ich hier ein kleines Stück davon vor, einige Verse aus dem neun Gesänge umfassenden Werk!

Harun al Raschids Sohn Assad, auf der Suche nach seinem Bruder Amin, findet sich im zweiten Gesang in einer fremden Stadt wieder. Es ist Abend, und Assad beschließt, sich eine Bleibe zu suchen.

 

Als er dies erwägt, vernimmt er plötzlich
Paukenschall, Drommetenklang und Pfeifen,
Ja, Gesang erhebend naht ein langer
Zug von Fackeln. Junge Fraun und Männer
Gingen paarweis, um die Schläfe Rosen
Und in goldenen Körben Rosen tragend,
Die sie singend auf den Weg verstreuten;
Aber vier geschmückte Knaben führten
Einen weißen Zelter, bunt behangen.
Auf dem Zelter saß die schönste Jungfrau,
Übersät von Perlen und Rubinen;
Aber Tränen blitzen ihr im Auge,
Tränen fielen über bleiche Wangen,
Und unendlich wie der Seele Schönheit
Schien der Schmerz in ihrer schönen Seele.
Ihr zur Seite ritt ein Zwerg, phantastisch
Aufgeputzt, mit einem spitzen Höcker.
Wie die alte Fabel uns die Göttin
Ewiger Reize malt und widersinnig
Zugesellt ihr einen lahmen Unhold:
Also ritt auch jenes Paar selbander.
Aber Haruns Sohn verwandte keinen
Blick vom nassen Angesicht der Jungfrau.
Aufgeweckt von Mitgefühl, entschwebte
Seiner Brust der ersten Liebe Seufzer,
Und in Sehnsucht schmolz das tiefste Herz ihm.
Einen jungen Flötenspieler endlich
Aus dem Zug beiseite ziehend, lispelt
Schüchtern Assad dieses Wort ihm:
„Was bedeutet dieses Fest, und welche
Schöne Dame reitet auf dem Zelter?
Was beweint sie? Sag es mir, Geliebter!“

 

Ein sehr angenehmer, eingängiger Märchenton, den Platen das ganze Epos über durchhält, gleichgültig, ob die reine Handlung im Vordergrund steht oder eher ruhige Beschreibung. Dabei ist seine Sprache recht nah an der Prosa und erfüllt das Versmaß doch immer auf feine Weise; ganz selten lockert Platen dabei den strengen Gang der Trochäen durch eingestreute zweisilbig besetzte Senkungen auf: „goldenen“, „ewigen“. Das wirkt immer einfach, ist es aber nicht – aus dem dritten Gesang:

 

Schlanke Säulen aus geflecktem Marmor
Trugen blühende Myrtenlaubgewölbe,
Wohlgeruch verbreitend; auf Geländern
Standen ringsumher bemalte Krüge,
Schöngeformt und voll der schönsten Rosen:
Einem Landhaus glich das Schloss, und einsam
Auf Terassen, durch Zitronenwäldchen
Sanft beschattet, die das Meer bespülte,
Lag’s in hügelreicher Küstenlandschaft.

 

– Wer diese Art von Beschreibung einmal selbst versucht, wird feststellen: Das klingt mühelos und ist doch wirklich harte Arbeit …

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Erzählformen: Die Brunnen-Strophe (3)

Die Grundform der Brunnen-Strophe ist, auf die reine Silbenanzahl bezogen, diese:

x X / x X / x X / x
x X / x X / x X
x X / x X / x X / x
x X / x X / x X

– Und so wird sie in der Tat auch oft genug verwirklicht. Aber es ist eben auch eine Volksliedstrophe, und als solche neigt sie dazu, sich zahlreiche Freiheiten zu gestatten: Doppelt, ja dreifach besetzte Senkungen, versetzte Betonungen – die ganze Liste.

Das macht allen, die Ordnung in die verschiedenen Strophenarten bringen wollen, die Arbeit nicht leicht! Zum Beispiel diese Strophe von Heinrich Heine, ein Gedichtbeginn:

 

Der Abend kommt gezogen,
Der Nebel bedeckt die See;
Geheimnisvoll rauschen die Wogen,
Da steigt es weiß in die Höh.

 

Die Silbenverteilung sieht so aus:

x X / x X / x X / x
x X / x x X / x X
x X / x x X / x x X / x
x X / x X / x x X

– Ist das jetzt noch ein Abwandlung des oben gezeigten Silbenbilds der Brunnen-Strophe, oder schon eine Abwandlung dieses Silbenbilds …

x X / x x X / x x X / x
x X / x x X / x x X
x X / x x X / x x X / x
x X / x x X / x x X

… bei dem die beiden Innensenkungen durchgängig mit je zwei unbetonten Silben besetzt sind; einer eigenständigen und auch vielgenutzten Strophe?

Unmöglich zu sagen, Heines Strophe hält genau die Mitte: Bei einem Vers sind die beiden Innensenkungen einsilbig besetzt, bei einem Vers zweisilbig; bei einem Vers ist die erste Innensenkung einsilbig, die zweite zweisilbig besetzt, und beim verbleibenden Vers ist es genau umgekehrt!

Nun ist es nicht entscheidend wichtig, eine Schublade für jede je geschriebene Strophe zu haben; aber es zeigt sich schon, warum diese besondere Strophe so schwer zu packen ist, und warum „Volksliedstrophe“ ein Begriff ist, der oft aus Verlegenheit gewählt und benutzt wird.

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Bücher zum Vers (59)

Otto Paul / Ingeborg Glier: Deutsche Metrik

Je „heutiger“ eine Metrik ist, desto stärker ist ihr Inhalt verschoben, weg vom „Vorstellen des handwerklich Nötigen“ und hin zum „Vorstellen des zum Verständnis Nötigen“; metrisch aufgebaute Texte werden nicht mehr gezeigt als etwas, dass im Heute entsteht, sondern als etwas, das früher entstanden ist.

Auf der Grenze steht die „Deutsche Metrik“. Von Otto Paul im Jahre 1938 verfasst, ist sie später von Ingeborg Glier überarbeitet worden und hat viele Auflagen erlebt; Ich habe hier gerade die 8. Auflage herumliegen, erschienen 1970 im Max Hueber Verlag.

Auch als Verse-Schaffender kommt man hier auf seine Kosten, nicht nur als Verse-Nachvollziehender; obwohl die Entwicklung dorthin schon deutlich zu spüren ist. Trotzdem ist der Band allemal einen Blick wert, durchaus auch einen längeren und genaueren!